Tumbleweed
Weil ich eigentlich gar nicht da sein sollte. Aber natürlich haben wir uns gefreut. Und deine Geschwister hättest du sehen sollen. Habe ich doch. Ich habe alles gesehen. Ich habe gesehen, geschrien, mit den Fäusten getrommelt. Da haben sie mich ausgesetzt. Zwischen die Löwenzähne. Ich war noch so klein, viel kleiner als alle anderen. Du wächst ja noch, haben sie gesagt. Du wächst ja noch über die Löwenzähne hinaus, über die Pusteblumen. Aber die Fallschirme sind mir um die Ohren geflogen, bei jedem Windstoss prasselten sie mir gegen die Stirn. Noch bevor sich die Fontanelle schloss, sass ich im tiefen Gras neben dem Springbrunnen und hatte keinen Namen. Ohne Namen sass ich im tiefen Gras und wehrte mich mit Händen und Füssen. Käfer krabbelten über meine Zehen. Ameisen trugen sich gegenseitig meinen Arm herauf. Was hat denn das Kind? Es ist so nervös. So nervös ist das Kind, wo es doch in der Idylle sitzt. Und die Gräser. Hörst du nicht? Die singen dem Kind. Ein Schlaflied. Gänseblümchen mein Engelchen, fall nicht vom Stängelchen. Alle Blüten geschlossen, im Osten schon dunkel, nur das Kind sitzt noch im tiefen Gras und trommelt sich eine Lichtung.
Wie sollen wir es rufen, wenn es keinen Namen hat? Ausgesetzt haben sie mich. Dem Wind und den Tropfen, die vom Springbrunnen herüberwehen. Du wächst ja noch, haben sie gesagt. Sie sind gross wie Zaunpfähle. Sie stehen nebeneinander und winken. Aber ich komme nicht. Solange nicht, bis sie das Kind beim Namen nennen. Solange bleibe ich hier draussen sitzen und trommle ein Erdbeben, dass keine Ameise und kein Pusteblumenfallschirm an seinem Platz bleibt. Und wenn es ein Mädchen wird. Dann können wir immer noch überlegen. Das Kind ist in der Wildnis aufgewachsen. Wir haben vom Balkon aus betrachtet, wie es erst den Gänseblümchen über den Kopf wuchs, dann den Löwenzähnen und schließlich konnte es über den Zaun schauen. Das Kind wächst wie Unkraut, riefen die Nachbarn vom Balkon, aber wir verbaten ihnen den Mund. Als es ausgewachsen war, löste es sich und trieb mit dem Wind davon.
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Jutta Reichelt (Mittwoch, 14 Mai 2014 13:52)
Ich werde jetzt den Schreibtisch verlassen und in die Stadtbücherei fahren. Ich werde dort ein Buch ausleihen, das ich besäße, wenn es nur nach mir und nicht auch nach meinem Kontostand ginge. Ich hoffe, dass ich in diesem Buch ein paar Sätze finden werde, die es mir erlauben, hier einen "Kommentar" zu schreiben, was ich gerne möchte - denn sobald die Möglichkeit vorhanden ist, Kommentare zu schreiben, könnte der Eindruck eines Mangels oder eines Versäumnisses oder gar eines nicht vorhandenen Interesses entstehen, wenn sie ausbleiben. Aber wie soll man einen literarischen Text kommentieren, ohne aus dem literarischen Raum, den er wunderbarerweise geschaffen hat, herauszutreten? Ich werde jetzt in die Stadtbücherei fahren. Ich werde ein Buch ausleihen und vielleicht in einem ganz anderen einen Satz finden. Ich werde mich wieder melden ...