Foto: Luca Maximilian Kunze
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Es muss doch etwas passieren.

 

Ich stehe am Bahnhof oder im Regen oder auf einer Brücke oder an einem anderen Ort, der veranschaulichen soll, dass sich in meinem Leben oder in mir etwas verändert oder verändert hat – ich stehe also in einer Metapher. Schon mal darüber nachgedacht wie man mit einem Jumpsuit, T-Shit und Pulli drüber auf die Toilette geht? Tja, ich auch nicht. Ich stehe also in der Toilette und mir wird bewusst, dass ich so ziemlich alles ausziehen muss, nur um pinkeln zu können – ich muss also alles ausziehen. Alles. Ich muss alles ausziehen – Stück für Stück, mit entkleiden, nackt sein. Der ein oder andere verliebt sich in mich, die meisten wissen, sie finden noch etwas besseres. In meiner Strumpfhose hat sich eine Laufmasche gebildet: Am Scheideweg, denke ich. Da ist ja die Metapher – eine Laufmasche und M. sagt, er fände Laufmaschen sexy – da sähe man, wie hart Frauen arbeiten bla bla. Es läuft Radiohead. M. steht eine Weile im Raum und sagt dann: Die Musik ist kaputt.

 

Es muss doch irgendwas passieren. Es muss doch irgendetwas passiert sein. Ich aktualisiere. Es passieren doch Dinge. Es muss doch irgendetwas passieren. Passieren.

  

Zum ersten Mal passiert bin ich am 23. Juli 1985 um 21:10 im Kreiskrankenhaus Temeschburg Rumänien. Meine Mutter, die mich hat aus Versehen passieren lassen, wäre bei diesem Vorgang fast ums Leben gekommen, da der Arzt, den mein Großvater zwecks meines baldigen Passierens vorsorglich bestochen hatte, schnellst möglich in den Urlaub passieren wollte. Einige Unachtsamkeiten hätten das endgültige Passierens meiner Mutter aus dieser Welt heraus bedeuten können – dem war nicht so. Glück passiert. Wenige Monate später – sie hatten die Entscheidung schon weit vor meinem Passieren getroffen – passierten sie die Grenzen des Sozialismus in Richtung gelobtes Land: Israel. Usw. Wegmarken meiner Existenz, wenn ich mein Passieren in dieser Welt verorten muss.

 

Passieren. Es muss doch etwas passieren. Dinge passieren. Menschen. Ich passiere. Jetzt. Ich passiere, wenn ich hier oben auf der Bühne stehe, ins Licht geworfen und mit Glitzer besprüht. Ich passiere, wenn ich auf Aktualisieren drücke – refreshing the page.

 

Ich passiere, wenn ich so – von einer Seite der Bühne zu anderen schreite, ein bisschen nervös. Nervöses Passieren. Ich passiere, wenn du mich anschaust. Ich passiere, wenn du mich liest. Ich passiere als Immatrikulationsbescheinigung der Universität Heidelberg, als Steueridentifikationsnummer ID14589572039, als Wohnort Wilhelmshavenerstraße 41, 10551 Berlin, als Sarah Berger aka. @milch_honig, als ich kaufe nicht bei H&M ein, weil die Sachen durch Kinderhände passieren, als Frage meines Vaters ob ich jetzt als ein Hipster Berlin passiere, als Abschiedsbrief 13.04.2015, als ja klar kannst du dich an meiner Schulter ausheulen und dann mit meiner besten Freundin vögeln, ich passiere als Idee, als Vorstellung, als Raum, als Opfer, als Zustand, als Melodie, als Milchmädchenrechnung … Ich bin eine Floskel – ein Zeichen – eine Schublade. Ich bin ein Gegenstand. In bin eine Form gepresst auf Fläche. Ich bin Zeit. Ich bin diese Linie gezogen durch Zeit und ausgefranst. Ich bin vergangen.

 

„Da war es wieder.“ – „Hm?“ – „Da war es wieder.“ – „Was?“ – „Das Geräusch.“ – „Welches Geräusch?“ – „Mein Herz, ich glaube, es ist mein Herz.“

 

Ich aktualisiere. Ich passiere. All das sind Dinge meines Passierens. Tut mir leid, ich bin wie ich bin, das ist alles. Der Schreibraum wird eng, wenn ich ihn nur über das Ich passiere. Kaum mehr passiert etwas über einen allwissenden Erzähler – eine Figur, die überall gleichzeitig passieren konnte, die sowohl das Geschehen selbst als auch die diversen Ichs und Dus zu durchdringen wusste, deren Innenraum selbst aber kaum zu passieren ist. Das Ich ist immer mehr in den Mittelpunkt des Erzählens gerückt – ein „kleiner“ Schreibraum der zugleich den Innenraum des Erzählten selbst absteckt. Für das Passieren bedeutetet das, das nunmehr alles durch das Ich passiert und irgendwie alles, was Nicht-Ich ist, ein Problem darstellt.

 

„Du liebst mich?“ – „Ja.“ – „Tust du?“ – „Ja.“ – „Wirklich?“ – „Ja.“ – „Sag es.“ – „Was?“ – „Dass du mich liebst.“ – „Hab ich doch.“ – „Nein.“ – „Natürlich habe ich.“ – „Nein! Hast du nicht, ich habe dich gefragt und du hast ja gesagt. Aber du hast es nicht gesagt.“

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