In mir haben sich meine Ahnen verfangen,
und ich spüre unter meiner Stirn, unter meiner Haut,
wie eine leichte Bewegung, Daunen, ein Geschenk des Lebens,
ihren seherischen Atem, ihr seherisches Leid.
– Miroslav Antic, Die Vollkommenheit des Feuers
Am Morgen säumen einige Lichtstreifen ihr Haar. Ich stehe auf und hole mir Wasser aus der Küche, setze mich auf die Couch neben meiner Mutter, die einen dicken Schmöker in der Hand hält und dessen Umschlag betrachtet. Sie scheint, mich nicht bemerkt zu haben. Die Erinnerung an meine Großmutter taucht insgeheim wieder auf. Auch sie bemerkte mich in ihren letzten Jahren nie. Die Demenz, die sie zerfraß, immer wird sie auch in uns, in meinem Bruder, meiner Mutter und mir vermutet. Ein lahmender Parasit, der einem die Erinnerungen Stück für Stück wegfrisst, bis nur Gestammel und Inkontinenz von einem übrig bleibt. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und betrachte eines der letzten Fotos mit meiner Großmutter. Die grauen Locken, die feinen Kerben und Falten ihres Gesichts, die Mundwinkel zum Halblächeln gekrümmt. Auf dem Foto ist sie zweiundsiebzig Jahre alt, und nichts verrät nach außen hin ihre Krankheit. Doch da ist ihr Blick. Die leeren schwarzen Augen, tief und glatt wie Seen in Dunkelheit. Ich drehe mich wieder zu meiner Mutter. Sie hat mich bemerkt, lächelt, zeigt die neugemachte Zahnreihe, wünscht mir einen guten Morgen.
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