[...] Sich in dieser Erinnerung ergehend, kommt Keblatt nicht umhin, vor sich hinzugackern; nicht zuletzt auch wegen ihres lustigen, leider nur im Geiste geäußerten Spruchs, die Frau habe Steine
im Hirn. Während sie sich durch die Website der Gedenkstätte Sachsenhausen klickt, stellt sie sich vor, die Steine-im-Hirn-Bemerkung vor einer Gruppe Menschen zum Besten zu geben, wildes
Gelächter zu erzeugen und anerkennende Blicke zugeworfen zu bekommen angesichts dieser, ja man kann sagen, Sentenz. Vielleicht sollte sie aufstehen und den Versuch wagen, mangels großem Publikum
wenigsten einen Lacher bei ihrem Mann zu ernten, überlegt sie und verwirft diesen Gedanken wieder, als ihr einfällt, dass er die Geschichte, die zum Verstehen des Ausspruchs zwingend und mit der
Pointe nach dem Vorbild siamesischer Zwillinge verknüpft ist, noch gar nicht kennt. Scheiß Gedenkstätte, raunt sie, wiewohl sie eigentlich sagen wollte, scheiß Zwillinge – warum auch immer. Sie
fragt sich, wie es zu dieser verbalen Verwechslung kommen konnte, und erklärt sie sich nach einigen, von Hypochondrie gekitzelten Überlegungen schließlich damit, dass offenbar der Header
Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen daran schuld sei, den sie einen Augenblick zuvor mit den Augen überflogen hat. Eigentlich wäre eine Führung nicht schlecht, findet Keblatt,
allerdings ist es nicht möglich, innerhalb der nächsten zwei Tage noch das nötige Geld von allen Schülern einzutreiben. Die nichtsnutzige und Sprechverbot würdige Bagage schafft es nicht einmal
in einem Zeitraum von vier Wochen, die erforderlichen Beträge für Veranstaltungen und Klassenausflüge mitzubringen. Hab' ich vergessen, hab' ich vergessen. Keblatt zieht die Augenbrauen
hoch. Wie wollt ihr Gehirnphantome etwas vergessen, das nie in eurem Bewusstsein angekommen ist?
Auf einmal plagen Keblatt Zweifel: Ist es wirklich eine gute Entscheidung, eine Exkursion zur KZ-Gedenkstätte zu unternehmen? Schließlich sind die Kinder in der schlimmsten sowie beschämendsten
Phase des Lebens: der Pubertät; die Episode, in der man für gewöhnlich außerstande ist, mehr zu sehen als sich selbst, in der die Abhängigkeit von dem Bildnis, das die Welt sich von einem machen
soll, am stärksten ist, in der man verunsichert ist wie nie zuvor und danach und mithin versucht ist, das eigene selbst aufzuwerten, indem man andere abwertet, in der man eine Rolle unter
seinesgleichen sucht. Keblatts Zweifel erhärten sich. Die Jungs könnten sie blamieren. Warum sollten diese oberlippenbefläumten Investitionsruinen auf dem KZ-Gelände auf einmal davon absehen,
Heil Hitler zu schreien, den rechten Arm zu erheben und sich darüber kaputt zu lachen? Sie verzieht das Gesicht, die Vorstellung ist für sie kaum zu ertragen. Nein, sie müssen sich nicht
für die nationalsozialistischen Verbrechen interessieren, das ist ihr wurscht, von ihr aus dürfen sie sich ruhigen Gewissen langweilen, solange es leise und unauffällig vonstattengeht. Lass mich
einfach diese Exkursion überstehen, ohne dass ich mich im Namen der Klasse bei Museumsmitarbeitern und Überlebenden für pietätlose semiotische Entgleisungen entschuldigen muss, spricht Keblatt
gebetsartig zu sich.
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