Martin Mandler
ß
Zum letzten Mal, heut, schreib ich dir, Anstalt.
Gedankenlos wie je. Aber heut ist das nicht so schlimm. Denn wenn wär’ ich ein Schweizer, gäb’s diesen Beitrag gar nicht. Und wärst du, September, ein Anstalts-Februar, stünde hier auch nichts.
Eine Freude warst du mir. Anstalt.
Übertrag
Im Hof steht eine kleine Leiter aus Aluminium. Die Kinder klettern darauf herum und versuchen, die Leiter, während sie auf ihr stehen, so weit zu bewegen, dass sie gerade nicht umfällt.
Es ist dieselbe silberne Leiter, auf der auch ich als Kind geklettert bin. Und jedes Mal, wenn ich sie sehe, im Hof oder in der Werkstatt, denke ich an meinen Vater. In meinem Kopf hat er seinen blauen Arbeitsmantel wieder an. Eine Spur Motoröl aus der Autowerkstatt, in der er arbeitet, hat sich wie ein Bestandteil der Haut in den feinen Falten seiner Hand abgesetzt. Es gibt keine Seife, die dieses Öl aus der Haut herauswaschen lässt. Auch auf meiner nicht, wenn ich am Rasenmäher schraube. Oder am Auto.
Ich frage mich, nein, ich wäre gespannt, bei welchen Gegenständen meine Kinder später an mich denken werden. Die Leiter wird es vermutlich nicht sein. Auch nicht das Öl auf meiner Haut. Mein Rechner vielleicht. Oder. Nein. Ich weiß es nicht. Aber ich werde sie fragen. Wenn ich die Gelegenheit dazu bekommen werde, werde ich sie danach fragen.
Österreich
Dass man Länder und Städte besuchen kann wie liebe Menschen, Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins und später, wenn man groß ist, seine Freunde und seine Liebsten, das kann ich bis heute nicht verstehen. Als ob ein Land etwas Abgeschlossenes sein könnte, als ob es eine Persönlichkeit hätte, wie Menschen eine Persönlichkeit haben. Aber selbst die ist ja nie abgeschlossen. Man kann sie nur nach außen fixieren wie man eine Frisur fixieren kann. Wie man Haare im Gleichgewicht hält, sofern kein Windstoß etwas dagegen hat. Aber die Leute sagen ja nicht nur, ich besuche Österreich, sondern sie sagen auch: der Türke, der Russe, der Österreicher. Der Tiroler oder der Rheinland-Pfälzer. Und ich finde es seltsam, dass ich jetzt nicht nur die Türkei besuchen kann, sondern auch Österreich. Ich fahre in das Land, das einmal meines war, bloß noch auf Besuch. Mein Reisepass ist nur mehr ein rechteckiger, roter Anachronismus. Nächste Woche fahre ich dorthin. Nach Wien. Und ich hoffe, dass ich mich nicht werde schämen müssen. Über den Österreicher. Der morgen, so sagen sie, zu zwanzig Prozent die Niedertracht wählen wird.
Ähnlichkeiten
Hund und Herrchen.
Pärchentrainingsanzüge.
Frisuren in Kleinstadtfußgängerzonen am Einkaufssamstag.
Die Gesichter der Kinder.
Wenn ich alte Sterbebilder aus meinem Dorf sehe, erkenne ich die Gesichter meiner Kindheitsfreunde in ihren vor hundert Jahren gestorbenen Urgroßeltern wieder. Und vielleicht, denke ich, gibt es in diesen kleinen Alpendörfern schon immer die gleichen Gesichter, weil es in ihnen ja auch seit Jahrtausenden schon immer die gleichen Familien gibt, die sich die Äcker ebenso teilen, wie sie sich immer schon die Betten teilen.
Zwischenzeit
Am Flughafen sitzen und auf das Ankommen des Besuchs warten. Selbst übers Wegfliegen nachdenken. Aber nicht wissen, wohin es sich zu fliegen lohnt. Auch nicht wissen, wohin es sich nicht lohnen würde.
Froh sein, wenn der Besuch angekommen ist. Weil man sich dann wieder in seinem Alltag verlieren kann.
Yacht
Selbst wenn ich dich hätte, was tät ich dann auf dir?
Auf deinem polierten Mahagonideck in der Sonne sitzen? In Cannes vielleicht? Oder ist das heute gar nicht mehr in?
Wo legt man denn an, heute, mit seiner Yacht? In der wenigen Zeit, in der man sich vom Yachtverdienen erholen kann.
Oder ist es der Traum, nicht mehr arbeiten zu müssen, für den du stehst?
Und wie groß musst du sein, damit man dich herzeigen kann? Ab welcher Länge fängst du an, kein Boot mehr zu sein?
Yacht, wenn ich ehrlich bin: Ich weiß nicht, warum so viele von dir träumen.
Xylophon ...
... oder xenophob?
Das Xylophon in meinem Kindergarten. Es stand im Musikraum und mit wildem Gewirbel versuchten Tom und ich die schöne Nicole zum Küssen zu bringen. Manchmal auch mit der Triangel, dem Tamburin oder der Gitarre. Je nachdem, welches Instrument gerade frei war, wenn sich Nicole in den Musikraum setzte.
Bei xenophob habe ich den Strache im Kopf und all die anderen Verbohrten, die unsere idyllische Politlandschaft mit ihrem Gift und ihrer Galle besudeln.
Je schöner die Gegend desto hässlicher die Leute. Hab ich schon oft gedacht. Nicht nur daheim, in Österreich. Aber dort auch. Dort auch.
Wienerinnerungen 1 bis 5
Die steile Otto-Bauer-Gasse am Morgen mit dem Fahrrad hinauffahren. Der Kindersitz hinten drauf mit der lachenden L. Die es umso mehr freut, je kräftiger ich in die Pedale trete und je mehr das Fahrrad hin- und hergeschüttelt wird.
Der schwach beleuchtete Eingang ins Tanzcafé Jenseits. Der Türsteher, der hinter dem Eingang wartet. Praktisch immer mit dicken Eiern.
Wenn der Frühling kommt, im März. Und innerhalb einer Woche Winterjacken nicht mehr gebraucht werden. 25 Grad.
Das Warten auf die Straßenbahn. Eine Frau, die im dritten Stock, vielleicht auch im vierten, „Hurenkind“ schreit.
Der Geruch aus dem Keller der Bäckerei ums Eck. Am frühen Morgen. Weißbrot und Semmeln. Um drei Uhr, vielleicht um halb vier. Auf dem Heimweg aus dem Einhorn oder einem anderen Café.
Vexieren.
Manchmal verschwimmt der Reim ins Ungewisse.
Hängen die Zusammenhänge schief.
Nähert sich die Grammatik dem Sinnlosen.
Stottert die Erzählung.
Manchmal entwickelt sich nicht alles zum Guten.
Aber Angst möchte ich mir selbst nicht machen.
Ungarn
Das erste Mal ein richtiger Urlaub. Im Ausland. Und gleich im Ostblock.
Die weit aufgerissenen Augen meiner Geschwister. Meine eigene abenteuerliche Angst vor den Grenzpolizisten. Und eine freche Gans, die keine fünf Meter von uns entfernt den Grenzer anschnatterte. Sie wusste besser als wir, dass er uns nichts tun würde.
Die Restaurants, die sich immer Mühle nannten. Und immer kam dort ein als Csardasfürst verkleideter Geiger an unseren Tisch. Ging erst wieder, wenn wir ihm ein paar Forint in den Hut geworfen hatten.
Und in der Nacht, während wir in unseren Betten lagen und die Eltern mit dem Onkel und den zwei Tanten in der Küche lachen hörten. Der Barack wird’s gewesen sein, der sie so heiter gemacht hat.
Und in der Nacht, während wir in unseren Betten lagen und die Eltern mit den zwei Tanten und dem Onkel lachen hörten. Er hatte einen BMW. Und es war das erste Mal, dass wir 200 gefahren waren. Mit seinem schwarzen Sportwagen, in der Steiermark.
Und in der Nacht, während wir in unseren Betten lagen und die Tanten, den Onkel und auch unsere Eltern lachen hörten, flogen die Hubschrauber in der Luft. Sie flogen nur in der Nacht, am Tag sahen wir sie nie. Oder vielleicht hatten wir auch nur zu viel damit zu tun, Normalität zu spielen. Im warmen, braunen Wasser des Plattensees zu schwimmen. Und einzucremen. Und den marktschreienden Verkäufern am Ufer ihre Mehlspeisen abzukaufen.
Träumen
Schwerer Schlaf, fünf Stunden nur. Nacht für Nacht das Minimalpensum abgestottert. Die Müdigkeit wandert über den Kopf in die Knochen.
Verfangen im Alltag fallen die Träume dem Schlafmangel zum Opfer.
Sozialkaufhaus
Oder doch nicht. Weil eigentlich ja: Sex.
Das Gekichere auf der breiten Steintreppe der Volksschule, beim Tauschen der Panini-Bildchen: Benfica Lissabon.
Wie wir den Mädels mit Würmern, Schnecken oder Schlangenköpfen hinterher rannten.
Wie wir es nicht besser verstanden als sie in eine Prügelei zu verwickeln, um sie anfassen zu können.
Wie wir mit vorgefertigten Komplimenten auf heimlichen Zetteln begannen.
Wie wir schweißnasse Händchen hielten.
Der Geschmack ihrer Münder.
Ihr Geruch.
Dem ich vom Anfang an verfallen war.
Redbull me
Ein Redbull-Casting in der Wüste.
Ein Terror-Bootcamp. Am Rand der Welt.
Eine Hundertschaft junger, athletischer Menschen. Und nicht mehr so junger, aber immer noch athletischer Menschen.
Bunte Zelte, zerknitterte Schlafsäcke und grüngraue Outdoor-Hosen.
Die Ausrüstung immer nah am Mann. Oder der Frau.
Es kann in jeder Sekunde losgehen.
Wenn die Ausbilder pfeifen, springen sie.
Zitternde Erregung im Leib.
Im Kopf den einen Satz, das eine Ziel:
Redbull me!
Oh please, redbull me!
Quadrille
Direkt aus dem heimatlichen Bierzelt heraus- und in die großstädtischen Ballsäle der Haupt- und Residenzstadt hineingefallen saß K. mit seinem Instrument in der Hand auf der Bühne, und es kam ihm
ein wenig so vor, als ob die Zeit an den Ballsälen vorübergezogen wäre, als ob hier drinnen nicht das neue Jahrtausend langsam eingezählt, sondern zum hundertsten Mal schon, als ob mit jedem
weiteren Ball nur wieder die Jahrhundertwende gefeiert werden würde.
Bonbon Ball.
Jägerball.
Ball der Österreichischen Wirtschaft.
Immer das gleiche Spiel der Debütantinnen: Zuerst das weiße Kleid. Und direkt nach der Eröffnung das rote. Mit dem sich’s auf den Hintertreppen der Hofburg besser verwegen sein lässt. Mit dem man
die Röte im Gesicht nicht in den Ballsaal mit hinaustragen muss, weil das Rot des Kleides die eigenen feurigen Backen überstrahlt.
Nur der verwegene Geruch der Liebe haftete an ihnen. Haftete in K.s Kopf an ihnen, seit er zum ersten Mal über die Debütantenpäärchen hinweggestiegen war, auf einer der verwirrenden Musiker- und
Kellnerhintertreppen der Hofburg. Und er stieg jedes Mal wieder, bei jedem Ball aufs Neue, stieg K. über sie hinweg.
Ihr Liebesspiel hakte sich in K’s Kopf als Geruch der Liebe fest. Die Gesichter und Kleider der Verschlungenen verschwanden schnell wieder, aber ihr Geruch blieb in ihm haften.
Draußen im hellen Saallicht standen ihre Eltern. Keine Ahnung von dem verborgenen Spiel der Kinder, der nicht mehr ganz Kinder. Standen sie aufrecht da und unterhielten sie sich höflich.
Ab und zu tanzten auch sie einen Walzer. Vorsichtig genug, um nicht außer Atem oder, Gott bewahre, selbst in Wallung zu kommen.
Nur plötzlich, zu Mitternacht, vergaßen auch die Eltern ihre guten Manieren.
Quadrille! Riefen sie in den Saal. Und stampften im Galopp die Lebensfreude auf das Parkett.
Pausenleben
Von zwölf bis eins ist die magische Stunde. Weil kleine Angestellte die Bürotüren hinter sich ins Schloss werfen und sie sechzig Minuten tun können, als ob. Nein, nicht als ob. Sie verhalten sich nicht, als ob sie frei wären. Die meisten nehmen ihre Kollegen mit zum Essen. Mittagsmenü für 4,99. Softgetränk nach Wahl. Die Mittagspause ist der Stammtisch der kleinen Angestellten.
Oberbachstraße
Mit ihrem vom Wein roten Backen drängen sich die Touristen durch die engen Fachwerkstraßen.
Moselromantik.
Rheinseeligkeit.
Blaue Funktionsjacken haben sie um die etwas zu dicken Bäuche geschlungen. Darunter quillt der Wohlstand durch.
Schweratmend taumeln sie dem Abend entgegen.
Der Deutsche Herbst, längst schon nicht mehr wahr.
Nein sagen.
Sie haben mir beigebracht, still zu sein. Zu warten, bis die anderen zu Ende gesprochen haben. Brav zu sein. Mir die Haare zu kämmen. Nichts zu stehlen, niemanden zu beleidigen. Meine Nägel zu schneiden, keine fremden Menschen zu belästigen. Nicht unverschämt zu sein. Nicht zu lästern, keine Unzucht zu treiben. Nicht zu lügen, nicht zu töten, nicht des Nachbarn Frau. Aber Neinsagen fanden sie unverschämt.
Martin
Die Erinnerung daran, dass ich meinen eigenen Namen falsch geschrieben habe. An meinem ersten Schultag.
Die fünf anderen Martins in meinem Jahrgang.
Der riesige, leicht fremd aussehende Heilige in der Kirche meiner Kindheit.
Der vertraute Klang, wenn jemand meinen Namen ausspricht.
Der Name, der sich mit jedem Aussprechen in seinen Nuancen verändert.
Der fremde Klang meines Namens, wenn er mir zärtlich ins Ohr gehaucht wird.
Längen
Auto fahren.
Den Tisch abräumen.
Wäsche waschen.
In der Mittagspause einkaufen.
Und doch werden die Tage mit den Jahren kürzer.
Katzen
Statt draußen zu bleiben, endlich draußen zu bleiben und endlich nicht mehr nur im Kopf sondern wirklich nicht mehr hineinzugehen. Statt diesen Tag den Tag sein zu lassen, statt sich heute endlich zu gestatten, nicht mehr hineinzugehen, sondern draußen vor der Türe stehen zu bleiben. Erst stehen zu bleiben und sich dann hinzusetzen, um am Ende sitzen zu bleiben. Nicht wie Bartleby, am Schreibtisch. Sondern draußen, im Garten. Wie ein müde gewordener Gärtner. Im Hof, vor dem kleinen Springbrunnen vielleicht. Oder vor dem Balkon. Ja, vielleicht besser vor dem Balkon, im Gras, mit dem Rücken an den Formstein gelehnt, der seit Monaten abbröckelt. Seit Jahren schon.
Statt einfach nicht mehr hineinzugehen fragt sich K., während er die Türe öffnet und den Marmorboden der Arbeitsplatzvilla betritt, wo der Unterschied ist zwischen Menschen, die Hundebilder und Menschen, die Katzenbilder ins Internet stellen.
Ja sagen
Erneut eine schöne Geschichte. Von dem einen jungen Kameramann in Indonesion. Der mit seiner Kamera an einem Dezembermorgen auf seiner Terrasse saß. Und das Beben miterlebt hat. Der 10 Minuten später die Zerstörung filmen wollte. Und den die Welle mitsamt seinem Jeep ins Landesinnere vor sich hergetrieben hatte.
Der junge Kameramann auf der Suche nach seiner alten Mutter.
Sein offener Jeep, in den die Menschen in Panik sprangen. 20 hatten Platz.
Der junge Kameramann, wie er, schon zwanzig Leute auf dem Auto, stehen bleibt, um eine blinde Frau aufzuladen. Eine Frau, die er nicht kennt. Die er aber nicht sitzen lassen möchte.
Der junge Kameramann, der seine Mutter nur deshalb findet, weil er auch die blinde Frau aufgeladen hat. Und der sagt: Meine Mutter zu sehen und zu wissen, ich hätte sie nie gefunden, wenn ich nicht vollkommen unvernünftigerweise stehen geblieben wäre, um die blinde Frau mitzunehmen, das war das schönste Erlebnis meines Lebens.
Idiotie
Krankheit, sagt der erkältete P, sei eine vorübergehende Idiotie.
Manchmal auch eine nicht vorübergehende. Denke ich.
Während P mir zuprostet in der Dorfkneipe.
Und wir trinken, als ginge es um unser Leben.
Handlungsanweisung
Es muss doch möglich sein, schöne Geschichten zu erzählen.
Zum Beispiel die von dem oberkärntner Arbeiter. Der einmal im Jahr, im März, über den manchmal um diese Jahreszeit noch fast unpassierbaren Plöckenpass zu seinem Freund gefahren ist. Dem Italiener. Dem er 1916 auf 2000 Metern Seehöhe in den Alpen gegenübergestanden hat. Der eine Alpini, der andere Kaiserjäger.
Und als sie sich getroffen haben, weil eine Lawine den einen in die Stellung des anderen geschwemmt hat, haben sie sich das Versprechen abgenommen. Sie wollten sich jedes Jahr am 27. März treffen. Und eine Woche auf ihr beiderseitiges Überleben an diesem Tag trinken.
Also hat sich der oberkärntner Arbeiter nach dem Krieg aufgemacht. Jedes Jahr am 25. März. Um am 27. auf jeden Fall im südtiroler Timau zu sein. Wo auch der italienische Erntehelfer jedes Jahr hingekommen ist. In den Gasthof Da Otto. Den mit der grauen Fassade, auf der das Tauwetter fast jedes Mal schon begonnen hatte, große dunkle Wasserflecken zu hinterlassen.
Es muss doch möglich sein, schöne Geschichten zu erzählen. Denke ich. Und frage mich, was wohl an diesem einen 27. März passiert sein mag, als der oberkärnter Arbeiter vergeblich auf den italienischen Erntehelfer gewartet hat.
Grundlos
Aufgewacht.
Draußen ist es Herbst geworden.
Und doch, ich weiß nicht, grundlos vielleicht. Oder auch mit Berechtigung. Bin ich heute glücklich.
Ficken
Ihr Gesicht. Mit knapp vierzig noch mädchenhafte Augen. Brünette, ein wenig ausgefranste, feine Haare. Lachfalten wie ein Klischee um ihre Augen drapiert.
Sie hat schmale Lippen. Die lachen können, als ob es die letzten zwanzig Jahre nicht gegeben hätte.
Ficken.
Wie es sich aus ihrem Mund anhört. Ich kann mir vorstellen, keinen Unterschied zu hören, würde sie Waschsalon sagen.
Und doch erzeugt ihr Wort tausend Erinnerungen.
Ich sollte weniger sentimental sein.
Ernstsein
Jeden Tag aufs Neue sich aufraffen.
Sich zusammennehmen.
So tun, als ob es richtig wäre.
Sich selbst immer wieder den Sinn einbläuen. Einimpfen. So haben es die Leute vom Land in meiner Kindheit immer genannt.
Mir jeden Tag die gleichen Sätze vorsprechen. Wie um etwas Unheilvollem vorzubeugen.
Sie ins eigene Hirn pflanzen. Am Morgen. Im Auto. Oder vor dem Spiegel.
Immer aufstehen und weitergehen.
Weitermachen.
Langamen Schrittes arbeite ich auf ein Dienstjubiläum zu.
Dachterrasse
Eine Dachterrasse.
Leer.
Im Abendlicht.
Das helle Wiener Sommerblau im Westen.
Über dem Prater kommt langsam die Dunkelheit.
Ein Satz. Wie eine Erinnerung an ein nicht stattgefundenes Scheitern.
Und wäre ich dortgeblieben, ich säße doch nie auf ihr.
Chelsea
Frau Manning. Vor dir den Hut gezogen. Auch heute wieder.
Und an den starken Händedruck meines Großvaters gedacht. Bei dem das Ziehen seines Strohhutes noch eine echte Geste war.
An die raue Hand des Großvaters gedacht.
Die Kapelle, die er errichtet hat, weil der Herrgott ihn aus Russland hat heimkommen lassen.
Mit seinen von der Bergbauernarbeit dick gewordenen Fingern hat er mir seinen Hausberg gezeigt. Und gesagt: Da hinauf gehen wir einmal. Wenn du größer bist. Dann nehm’ ich dich mit.
Brotdiskussion
Er liebt, was er macht. Und möchte nichts anderes tun. Sagt J. zu K.
Sinnlos, sagt er zu K., sei so vieles, dass er stattdessen tun könnte. Das er nicht richtig kann. Und auch nicht richtig können will.
Er fragt K. nach dem Wert der Arbeit. Nach dem Kurs, der ihm für seine Leistung geboten wird. J ist wütend. K ratlos.
Ackermann
Zu spät. Wie immer ist K. nicht rechtzeitig aufgestanden. Der Wecker hat ihn früh genug geweckt. Das ändert nichts. Heute nicht. Genau wie es gestern nichts geändert
hat. Weil ein rechtzeitig klingelnder Alarmton in keinem erfassbaren Verhältnis zu Ks Pünktlichkeit steht.
Der Verkehr vor K. wird zäh. Je näher er der Innenstadt kommt, desto mehr Autos fahren auf der Straße. Desto langsamer kommt K. selbst voran.
Seine Freude darüber, dass sein Handy den Unterschied zwischen Wochentag und Wochenende kennt. Ihn samstags nie weckt. Auch sonntags nicht. Dafür im Urlaub manchmal. Diesen Unterschied macht es
nicht.
Seine Gleichgültigkeit, zu spät zu kommen.
Seine vor Müdigkeit wahrnehmungsschwachen Augen.
Vor K. ein großer LKW: Ackermann Gemüsetransporte.
Der Niedergang des ersten Sektors.