Tanzt man mit oder trotz oder gegen die Trommeln, frage ich mich, als der Pastor mit seiner rückgekoppelten, hallenden Stimme die Flasche öffnet und die Sturmluft plötzlich vom Geruch nach Amber gesättigt ist, als hätte man im hintersten Eck einer Kommode ein Parfüm entdeckt, das von der unvorstellbaren Jugend der Großmutter erzählt, so riecht dieses heilige Palm-Öl in seiner Hand. Abenya steht vor ihm, umgeben von den Zischsounds scheppernder Rasseln und fast berührt sein rechtes Ohr ihre Lippen. Er hört ihr Anliegen und spritzt Abenya zur Antwort Öl ins Gesicht, umkreist sie, als wäre es Spiel oder Jagd, spuckt auf ihren Rücken, den linken Fuß, nimmt aus der kleinen Schüssel rötlichen Sand und bald ist Abenyas schwarze Haut übersät von hellen Flecken; ein glänzendes, sandiges Muster. Sie spricht, andauernd und unverständlich, ihre Worte werden neue Flüsterquellen, die sich nach den Schritten und Rufen des Pastors richten, und nachdem sie sich über eine Stunde im Kreis gedreht hat, die Arme übern Kopf erhoben, nach dieser bedeutungslosen Zeit, wenn sich unter der Haut das Schreien und Singen als Muskelzittern fortspinnt, legt die Messe in Lied und Musik einen Takt an Verrücktheit zu. Monoton bewegen sich ihre Lippen, mit Fingerspitzen dreht er sie, lässt sie nicht aus den Augen und flüstert und flucht, er lockt der kreisenden Frau das Bewusstsein aus dem Kopf, rein ins Wirbeln der Trommeln, Rasseln und Körper. Ich sehe auf ihrem Gesicht ein paar Tränen oder Tropfen vom Öl, mit geschlossenen Augen kreist Abenya und zittert, einmal noch zischt der Pastor Jesus, zischt es und zwingt es dem Regen als lautes Echo auf, dem die Frau Folge leistet, sie kippt um und liegt, das Gesicht in den Armen vergraben, am Boden. Nur mehr ihre von Öl und Sand verschmierten Füße bewegen sich, ich spüre, dass sich zwischen meinen Lungen die widerspenstig verdichtete Atmosphäre eingenistet hat, euphorisch von Rhythmen geleitet, innerhalb der grauen Mauern, und das, was Abenya gerade über die Zunge hinab rinnt, muss vom Mund des Pastors kommen, ein Wort fast wie Stein, Jesus flüstert er wieder und schreit es zugleich, ein Wort, dass weg getragen wird vom anschwellenden Lärm der Tanzenden, Trommelnden, sie nehmen sich Jesus und nageln ihn im treibenden Rhythmus an den Regen, und Abenya zerfließt, schwimmt in der Erinnerung, von wegen Kind und Weiß und Mann. Im Geruch nach Parfüm kommt das Verlangen, aufzugeben, wie damals, als der Mann nach Nigeria gefahren und nicht wieder gekommen war; hüte dich vor Truckfahrern, hatte ihre Mutter gesagt, entweder lassen sie dich sitzen oder infizieren dich mit HIV. Im lautschlagenden, harttappenden Tosen der Musik wirkt es, als würden Öl und Sand schwer auf ihr lasten und durch die Haut sickern, im Anblick der zuckenden, gefallenen Frau frage ich mich, wo sie sich gerade befindet, vielleicht in einem winzigen Versteck im Kopf, aus Atemzügen, eins zwei, geschaffen, zwei, eins tauchen in Abenya Schmerzen, Tränen, Schere auf und sie öffnet die Tür und sieht in der Dunkelheit einen kleinen, weißen Schimmer.
Am Rand eines Dorfes des Kwahu Plateaus, wo neben Barackensiedlungen schmiedeeisern umzäunte, meist unbewohnte Villen von Geschäftsleuten aus Accra aufragen, findet die Zeremonie in einem großen, einräumigen Rohbau statt. Zwischen Maisfeldern ist die Gemeinde Wind, Regen und dem nahen Wald überlassen. Ein Mann Mitte Dreißig tritt zwischen die plaudernden, barfüßigen Menschen; gehüllt in ein weißes, weites Gewand und ein rotes, um die Hüften und die rechte Schulter geknotetes Tuch, schüttelt er begrüßend Hände, öffnet seinen silbernen Aktenkoffer und holt einen Plastikbehälter voller Sand und eine Flasche, angefüllt mit gelblicher Flüssigkeit, hervor. Man reicht ihm ein tragbares Mikrofon, es pfeift, seine Stimme knistert, fängt sich, behält ein Echo zurück, welches über den Köpfen der Gläubigen hallt. Sturm schickt Schauer übern Himmel, angestaute Gewalten brechen auf, Trommeln werden geschlagen und im Klatschen, im Singen fallen Menschen in Trance, werden aus der Menge gezerrt, aus ihren Poren, Augen, Nasen flüchten Hexen oder Dämonen und verkriechen sich im Wald. Auf Tänzen wie Liedern reitet der Pastor, sein Gesicht glänzt vom Schweiß, inmitten von Wind und nassem Grün klaubt er aus der gelösten Masse von Leibern und Armen und Beinen die Ekstasen, die Bartfäden Christi, die schweißigen, blutbefleckten, ragen aus den Wolken und Männer, Frauen, Kinder hängen gleich Marionetten daran, Trommelrhythmen wirken als Droge, die Messe fungiert als öffentlicher Schauprozess; der Wille Gottes findet in der Hand des Geistlichen ein Echo, glaubt man, der wirbelnde, Bäuche und Köpfe berührende, Dämonen verjagende Pastor drückt eine unwiderstehliche Begeisterung aus, die, denke ich mir, dem finalen Strich an einem Gemälde oder dem letzten Notenzeichen einer Komposition entspricht. Sein Gesicht wird während der Zeremonie zum Spiegel für die Gefühle, die er aus den klatschenden Menschen in den Regen scheucht, er lacht oder verzerrt den Mund, fordert verzweifelt, glücklich, losgelassen ein neues Lied, einen neuen Tanz.
Ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation bringt mich mit zu einer Hütte am gegenüberliegenden Berghang; im Innenhof legt eine Frau den Holzstamm weg, mit dem sie Yamwurzeln zu Brei klopft, und holt den Schlüssel zu einer blauen Holztür. Ein Junge von acht Jahren stolpert über die Schwelle, reibt sich die Augen wegen der plötzlichen Helligkeit und umarmt ohne Wort oder Lächeln meinen Bekannten. Am Kopf des Jungen prangt eine fürchterliche Wunde, ein zur Seite geschobener, vernarbter Hautschwulst, der etwas vom Weiß des Schädelknochens freigibt. Ich erfahre, dass ihm Malaria das Hirn infizierte und er erst vor einer Woche halbtot im Graben entdeckt worden war, nahe des Marktes und der zusammengewürfelten Mischung der Hütten und Villen. Auf seinem Körper sind Narben früherer Verletzungen zu erkennen. Niemand weiß, wo sein Vater ist, die Mutter mit Namen Abenya erzählt, mit den epilleptischen Anfällen des Jungen nicht fertig zu werden, die sich von den Medikamenten, die unregelmäßig in der nächstgelegenen Stadt Nkawkaw aufzutreiben sind, nur schwer kontrollieren lassen. Eines Sonntagsfrüh habe ich dank Abenya Gelegenheit, einer Messe des African Faith beizuwohnen, einer Mischung von evangelischen Glauben und Animismus. Ich hole sie ab, ihre Hände gleiten vom Bauch zu den Hüften und streichen das Baumwollkleid glatt; auf Zimmerwänden ist der Morgen in Schatten zu erkennen, als wäre man ins Innere eines Tieres geraten und sähe dessen unregelmäßigen Puls. Sie nähert sich ihrem Abbild, die Stirn berührt das Glas und zwei Finger streichen über die dunklen Spuren im Gesicht. Es sind eigenwillige Narben, mit einer Klingenspitze eingeritzte Zeichen, zwei davon schreiben ihr horizontal aufgeklafft die Stammeszugehörigkeit in die Wangen, die restlichen drei dienen als schmale Zeugnisse der Fehlgeburten; etwas wie Tränen bleibt unter den Augen, in schwarzen Furchen verwahrtes Totengedenken, als hätten die Toten ihr aus Spiegeln hervor das Gesicht zerkratzt. Es beginnt leicht zu regnen, Abenyas Mutter schlägt im Innenhof mit einer Machete eine Ananas auf, beide nicken sich zum Abschied zu. Die Finger ihrer linken Hand streichen über das abgesplitterte Holz der blau bemalten Tür. Kurz zögert Abenya und geht dann doch entschlossen weiter, weil sie Angst hat vorm Kind dahinter und dem weißen Mal auf dessen Stirn. Auf der Straße bleibt ihre heimliche Frage, ob sich mit dem heutigen Tag etwas ändern wird, unbeantwortet, wie hochgewürfelt in den Vogelflug, und im Nebel verschwinden Menschen, die allesamt in eine Richtung gehen.
In Cape Coast ragt auf einem Küstenfelsen weißgewaschen das ehemalige britische Sklavenfort; ein Tunnel weist ins Kellergewölbe zu fünf Kammern, in deren Dunkelheit die Gefangenen zu Hunderten monatelang ausharren mussten. An den Wänden hinterließen sie unscheinbar eingekratzte Zeichnungen, der vermeintliche Lehmboden des Kerkers wird als eine über Jahrhunderte angesammelte und festgetretene Mischung aus Blut, Kotze, Pisse und Scheiße enthüllt. Durch die Deckenwand führt eine Luke zum kirchlichen Vorplatz, durch welche die Pastoren des anglikanischen Glaubens auf den ineinander verkeilten, schwitzenden, kämpfenden Menschenhaufen hinuntergafften und sich in ihrem Weltbild von wegen Himmel und Hölle bestätigt fühlten. In den Mauern des Forts verbleichen die Grabtafeln der Peiniger, Malaria oder Gelbfieber rafften an der Atlantikküste Gouverneure, Ehefrauen, Soldaten und Mätressen dahin, die namenlosen Sklaven gelangten, so sie den Kerker überlebten, durch ein niedriges Tor, welches die Aufschrift Gate of no Return trug, auf Beiboote und weiter zu Schiffen, die dort ankerten, wo gegenwärtig die Flotte von Iglo auf der Suche nach ergiebigen Fischgründen eine andere Form der Unterdrückung pflegt. Die Fischer von Cape Coast sitzen zwischen aufgebahrten, mit bunten Fähnchen geschmückten Booten, die Dienstags nicht ins Wasser gelassen werden, weil dieser Tag der Meeresgöttin geweiht zur Ruhe verpflichtet.
Nächte tarnen das von der Atlantikküste bis in den Norden mit Obstplantagen durchsetzte Land mit Unberührtheit, so, als gäbe es Staub, Plastikmüll und Abgasschwaden nicht. Nächte enthüllen die Hässlichkeit der Großstädte wie Accra oder Kumasi; kaum Straßenbeleuchtung, aber dafür die abbröckelnden Mauern, stinkenden Rinnsale und ein Himmel, der am Gerippe der Sendemasten flattert. Jeder Ort in Ghana bekommt seine unerklärliche Schönheit durch die Menschen und ihre Stimmen verpasst. Man kümmert sich nicht um die öffentlichen Plätze und den Müll, aber sorgt sich um die Beziehungen untereinander. Man flirtet, debattiert, aus den Autoradios dröhnen anstelle von Musik Diskussionen und Predigten, es ist ein ständiges Kennenlernen, Handeln, Erzählen und ein jeder Streit lässt sich beenden, indem man das Gegenüber mit der Bemerkung You are talking too much bloßstellt.
Ich knipse das Licht im Zimmer an, aufgeschreckt vom Lärm der gegenüberliegenden Straßenseite, unterm Rotieren des Ventilators mit meiner uneingestandenen Angst vor Moskitos und Malaria. Im östlichen Berggebiet Ghanas, nahe der Grenze zu Togo, treiben Trommeln einen Spalt in meinen Schlaf. In einem anliegenden Hof feiert eine Methodisten- oder Presbyterianer-Gemeinde eine Messe, ihre sich steigernden Rhythmen zertanzen den christlichen Glauben, bis das geschriene, wie triumphierend in die Dunkelheit gehaltene Wort Jesus im Singen, Klatschen davontreibt, infiziert von der Nervosität der Rasseln und Gesänge. Im Tanz treiben bunte Baumwollkleider ekstatische Blüten, als Driften hin zur Trance, deren unwissender Zeuge ich werde, geduckt ins Schreien einer Frau: Put the Demon away from me. Ich öffne die Eisentür und erschrecke wegen des metallischen Klirrens, tappe den Hang hinunter, zu einem Baum, dessen Astwerk tagsüber die Aufregung unzählig gelbgefiederter Vögel birgt; für ein paar Schritte begleitet mich ein dürrer Straßenhund, dem man die dauernden Prügel an den Rippen abzählen kann. Frauengestalten huschen unter verschatteten Blättern und schlafenden Vögeln eilig vorbei, ihre Gewänder ein blitzender Kreisel grün, violett, gelb und rot codierter Geheimnisse, ein weiteres Rätsel im kaum durchdringbaren Alltag Westafrikas. Unten im Tal breitet sich über Dächern ein schwaches Leuchten aus, aber hier sind nur die Stimmen, die Trommeln und Farben, deren Sinn ich nicht verstehe.
Mit Einbruch der Nacht verklingt in Palmen das laute Zirpen, aufgewirbelter Sand färbt die Luft rot und das Scheinwerferlicht vorbeifahrender Taxis gleitet über Fassaden und Gesichter, als würde es langsam zur Jagd schleichen. In den Holzbaracken der Bars, die am Guinnessschild überm Eingang zu erkennen sind, verkörpern Hüftkreisen und Gelächter eine Sehnsucht, die im Tropenklima prächtig wächst; katzenartig zirkuliert Lebenswillen wie eine Krankheit im Blut.
Text 3.
Koestler hörte nicht nur davon, er probierte auch und bewahrte sich seine Zweifel gegenüber diesem damals anbrechenden Hype, der im Meskalin- oder Psylocibinrausch die Vereinigung mit dem Göttlichen wahr werden sah. Koestler, der während des Spanischen Bürgerkrieges, der Spionage angeklagt, in einer Todeszelle des Franco-Regimes inhaftiert war und dort, inmitten der Hinrichtungen seiner Mitgefangenen, eine spirituelle Erfahrung des All-Eins-Seins gemacht hatte, bezeichnete die heraufdämmernde Drogenkultur als „Schnellkochtopf-Mystizismus“. Die Enttäuschung über die induzierten Pseudo-Weisheiten hielt ihn nicht davon ab, sein Schaffen neben belletristischen Werken vermehrt spirituellen und parapsychologischen Studien zu widmen, zudem veranstaltete er im Rahmen des Europäischen Forums in Alpbach ein Symposium mit Titel „Das neue Menschenbild“. (Nah am Puls der Zeit fand diese Tagung wie zu erwarten im Jahre 1968 statt.) Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei Erwin Schrödinger konstatieren. Schrödinger, der seinen Lebensabend in Alpbach verbrachte, vollzieht einen auffälligen Sprung von der (Quanten-) Physik auf deren Metaebene. Er löste den bisher gültigen Materiebegriff zugunsten jenen der Welle auf und hielt in seiner Abhandlung „Was ist ein Elementarteilchen?“ fest: „Ein Teilchen hat keine Identität“. Dieser Gedanke, demzufolge der kleinste Baustein unseres physischen Selbst fließend und identitätslos sei, bedeutet, dass ein Teilchen der Summe aller Teilchen entspricht. (Man kann es sich diese konformen Elementarteilchen wie die Häuser in Alpbach vorstellen, die von Alfons Moser – Bruder des erwähnten Simons, aber politisch weniger fragwürdig – als Bürgermeister in der Bauordnung verankert wurden und dem Dorf seither das einprägsame, einheitliche Ortsbild verschaffen, als Ausdruck ein und derselben Sache.) In seinem Buch Was ist Leben? (1951) kommt Schrödinger zur Erkenntnis, dass „... das Bewusstsein ein Singular ist, dessen Plural wir nicht kennen; dass nur eines wirklich ist und das, was eine Mehrzahl zu sein scheint, nur eine durch Täuschung (das indische Maja) entstandene Vielfalt von verschiedenen Erscheinungsformen dieses Einen ist.“ Arthur Koestler blieb, trotz aller parapsychologischer und spiritueller Denkarbeit und einer wiederholt geäußerten Anerkennung von Schrödingers Philosophie, ein zorniger, unumgänglicher Mensch. Nach zehn Jahren ließ er Tirol hinter sich und zog endgültig nach London, wo er in seiner Funktion als Präsident der Freitod-Organisation Exit 1983 nicht nur sich selbst und seine zwei Hunde mit Gift richtete, sondern auch die ihn abgöttisch liebende Cynthia. Wie viele andere seiner Zeitgenossen hatte Koestler nicht nur Geschichte gemacht, sondern war von dieser auch nachhaltig geschädigt worden.
Text 2.
Der Schriftsteller Arthur Koestler, 1905 in Budapest geboren, gilt als der erste bedeutende Renegat des Kommunismus, insbesondere dank seines 1940 erschienen Romans Darkness at Noon (zu deutsch: Sonnenfinsternis). Dieses Buch, welches in seiner Bedeutung Danilo Kis Meisterwerk Ein Grabmal für Boris Davidovich nahe kommt, handelt von den Moskauer Schauprozessen der 1930er Jahre und begleitet den fiktiven, auf Karl Radek und Nikolai Bucharin basierenden Revolutionär N. S. Rubaschow durch die Folterqualen der politischen Säuberungen. Koestler erkannte die Perversion des stalinistischen Systems bereits zu einer Zeit, als der Großteil der westeuropäischen Intellektuellen sich noch von sowjetischer Propaganda täuschen ließ und ans Gute in Stalin glaubte. Spätestens mit Ende des Zweiten Weltkrieges zählte Koestler zu den führenden Intellektuellen Europas, geriet nach seinem Tod 1983 – mitunter aufgrund sich bewahrheitender Vergewaltigungsvorwürfe - jedoch schnell in Vergessenheit. Gegenwärtig ist Koestler einzig für die Geschichtsforschung interessant, dank wechselhafter Biografie und unzähligen Bekanntschaften mit der damaligen Prominenz der Hochkultur. Er pflegte Kontakt zu Einstein (der ihn aufgrund seines Jähzorns nicht sonderlich schätzte), Sartre (selbige Antipathie in leichter Abwandlung, vermutlich auf ein Verhältnis von Koestler mit Simon de Beauvoir zurückzuführen), oder dem Harvard-Psychiater Timothy Leary, der noch vor seinem Aufstieg zum Guru der LSD-Szene schrieb: „Lieber Koestler, hier geschehen Dinge, die Dich, meiner Ansicht nach, sicher interessieren werden. Der große, neue, heiße Hit in vielen amerikanischen Kreisen heißt DROGEN. Schon davon gehört?"
Miszellen. Gelöschte Passagen aus einer Reportage, die dieser Tage in der Kulturzeitschrift Quart (Nr. 22) erscheint, und von Künstlern handelt, die es während oder nach dem Zweiten Weltkrieg nach Alpbach, einem Dorf im Tiroler Unterland, verschlagen hatte.
Text 1.
Die beiden Gründer des Europäischen Forums Alpbach bildeten ein erfolgreiches Duo: Simon Moser sorgte für die Verankerung im universitären Betrieb und Otto Moldens großbürgerlicher Habitus war Garant dafür, damalige Kapazunder wie Erwin Schrödinger oder Arthur Koestler nach Alpbach zu holen. Molden traf Arthur Koestler 1952 in Berlin, bei einem Congress for Cultural Freedom, ein von der CIA mitfinanziertes Projekt, um liberal-konservative Intellektuelle im Kampf gegen den Kommunismus auf eine Linie zu bringen. Mitte der 1950er Jahre kam Koestler erstmals nach Alpbach und ließ schließlich 1958 mit seiner dritten Ehefrau Cynthia das sogenannte Schreiber-Häusl errichten. Es mag erlaubt sein, an dieser Stelle eine persönliche Geschichte meinerseits einzufügen, auf die ich im Laufe der Recherche stieß: Koestler orderte für dieses Haus bei meinem Großvater die Türen und Fensterrahmen, nahm, als er zur Tischlerei kam, um die Bestellung abzuholen, aber nicht an, weil im Holz Äste zu erkennen waren und es sich daher, laut Koestler, um minderwertige Ware handelte. Er fuhr wieder ab, sich einen anderen Tischler zu suchen, meinen fuchsteufelswilden Großvater zurücklassend. Der Zufall will es, dass dieser damals für sich und meine Großmutter selbst eine bescheidene Behausung errichten wollte. Da er nun auf Koestlers Türen und Fenstern sitzen geblieben war, entschloss er sich, das Material dafür zu verwenden, wodurch das beabsichtigte Häuschen auf zwei Stockwerke samt Dachboden anwuchs, der gesamten Familie Platz bot und später von meinem Vater übernommen wurde. In diesem Haus habe ich meine Kindheit und Jugend verbracht, was nicht der Fall gewesen wäre, hätte Koestler sich nicht über Astlöcher ereifert und die Bezahlung verweigert. Stattdessen habe ich, ohne es bis vor kurzem zu wissen, hinter Koestlertüren gelebt und durch seine Fensterrahmen geschaut.
Guerilla Tactics, Bsp. 2: Text für Spotted: University of Innsbruck, eine beliebte (und auch für die Universität Wien usw. usf. Existierende) Facebook-Site, mit, laut Eigenaussage, folgendem Anliegen: „Wenn du jemanden auf der Uni entdeckst, von dem du deine Augen nicht lassen kannst, dann sprich sie per Nachricht an die Fanpage an, und wir posten sie ganz anonym. +++ SHARE THE LOVE! ♥“ Ein buntes Sammelsurium an Kitsch, Romantik und dummer Anmache, das sich für literarische Interventionen anbietet:
Ich bin ja eigentlich schon zu alt für die Uni, aber vielleicht hilft mir Spotted, dich wiederzufinden. Kann mich leider an wenig erinnern, du bist n ziemliches Partygirl, soviel weiß ich immerhin mit ziemlicher Sicherheit. Hab dich letzten Samstag bei der Goaparty im Queens Club gespottet, hast so nen neonfarbenen 90s Odorf-Assibraut-Style gekickt. Ich fand das schon nice, du im Männerklo, es hät bloß noch gefehlt, dass Richard Gere da neben dir unterm Pissoir gelegen wär, so wegen Pretty Woman, LOL, und wegen yolo und so hab ich mich zu dir gelegt, und als ich dich ansah, war's, als würd ich schon wieder eine Adrenalinspritze direkt ins Herz geschossen kriegen, oder als würd mir jemand den Auslöser zur einer Atombombe in die Hand drücken, oder eine riesige, eisgekühlte Bong, in deren Chillum eine Atombombe kohlt, stell dir das mal vor, und mein Magen verkrampfte sich, mach jetzt bloß keinen falschen Move, sondern nur tief einatmen, sagte ich mir und du hast mich angestarrt mit deinen glasigen Augen, mit deinen wunderschönen, riesigen Pupillen, die wie die Schlünde zweier Wurmlöcher waren, die mich direkt in mein eigenes, unschuldiges Herz saugten, das plötzlich wie ein Schwarm von Kolibris in sämtliche Richtungen stieben wollte und aufgeregt wummerte, so was ist mir echt noch nie passiert, ich schob mich näher an dich ran und mein Herz wie die Boxen im Queens Club, die zwar nicht so gut sind, wie die, die sie 2000 im Hafen hatten, als die richtig weirden Parties stiegen, aber auch das war mir egal, sei das M in meiner DMA flüsterte ich und hab dich gefragt, wie nennt man ne Goafete mit lauter Epileptikern und deine glänzenden Augen haben mich angeglotzt und ich hab gesagt: ne Schaumparty, und dann hast du gelacht, ja, du hast gelacht und nicht mehr damit aufgehört, mindestens ne Viertelstunde hast du durchgelacht und für mich hat es sich wie Glockenläuten angehört, oder wie das Piepen eines Müllwagens im Rückwärtsgang, so schön war dein Lachen im Queens-Club. Das Klo dort ist ja fast wie die Sandoz-Fabrik in Kundl, gleich viel Chemie, aber mehr Direktabnehmer, also probierte ich, für uns zwei mal schnell Nachschub klar zu machen, aber weil es so angenehm war, wir beide unters Pissoir gekauert, hab ich einfach Instagramm angerufen, und als sich da wieder mal keiner gemeldet hat, hab ich dich geküsst, und du hast dich nicht mal gewehrt, nein, du hast genüsslich gegrunzt und ich hab mich dir so unglaublich nah gefühlt, als wär ich das Badesalz, das sich gerade in deinem Hirn auflöste, wir zwei waren uns so richtig, richtig nah, weißt du noch, vor allem, als du mir die Frage ins Ohr flüstertest, warum Aliens immer nur Trucker und Farmer entführen, aber nie den Präsidenten der Vereinigten Staaten oder Ghandi oder so, und ich hab zu weinen begonnen, weil ich mich genau das seit Jahren selber frag, was hat es zu bedeuten, dass nur die Jungs ausm Trailerpark Analsonden verpasst bekommen, was wollen die Aliens uns damit sagen, wunderten wir uns und klammerten uns fest aneinander, wir küssten uns, deine Zunge wie ein schlabbriges, aufgequollenes LSD-Blättchen und wir küssten uns und deine Lippen wie links rechts zwei Speedlines, die sich zu einem einzigen Kick vereinen, wir fraßen uns regelrecht auf, dein Mund wie der East-River und meine eigene Zunge ein Mafia-Verräter in Betonschuhen. Dann hast du mir die Hose runtergezogen und leider sah es so aus, als würd ein Betrunkener aus seinem Auto fallen, und um zu verheimlichen, dass ich keinen hochkrieg, hab ich zu singen begonnen, ich sang dich an, erinnerst du dich, meine Augen sind wie Zipfer Sparkling, wenn ich dich seh, so sang ich, ja, sie funkeln und glitzern, ach nee, meine Augen sind wie Doughnouts mit bunten Streuseln, läufst du mir übern Weg, ja weißt du, du löst n Feuerwerk in mir aus, fresh wie Sunkist, Soulschwester, ich bin der Nachthimmel über Innsbruck und du bist Silvester. Und als ich endlich einen Ständer hatte, war es uns beiden egal, dass alle zugesehen haben, sowas hat mich persönlich ja noch nie gestört, als ich mal mit meiner ersten Frau am Liebemachen war, platzte unser Sohn rein, oh mein Gott, schrie sie, mach die Tür zu und geh sofort auf dein Zimmer. Nein, sagte ich, lass ihn zusehen, lass ihn zusehen und lernen, wie man das macht, lass ihn lernen, wie ich es von meinen Vater gelernt habe und wie mein Vater es von seinem Vater lernte. Ja, ich geb's zu, ich bin altmodisch. Und ich frag mich, woran es liegt, dass du mir so den Kopf verdreht hast, vielleicht war's doch nur das Dope und die Shrooms, aber nachdem ich am nächsten Tag von der Putzfrau aufgeweckt wurde und ganz allein unterm Pissoir im Queens-Club lag, da hab ich später meine Mutter gefragt und die meinte, sowas könne nicht an den Drogen liegen. Meine Mutter ist klug, die kennt sich mit Pilzen und so Zeug aus, sie arbeitet nämlich bei Subway. Lass dich spotten und lass uns nächstes Mal auch tanzen gehen.
Guerilla Tactics, Bsp. 1: Angewandte Kapitalismuskritik: Amazon, per manipulierten Kundenempfehlungen unterwandert, in diesem Fall: Das letzte Wort hat die Liebe, von Rob Bell, 9,99 €
Unterwegs zur Guillotine stieg Marie Antoinette auf den Fuß ihres Henkers, “Pardonez-moi, monsieur.”, waren ihre letzten Worte, Anstand schickt sich auch am Schaffot, “They can’t kill a smile!” sagte der Mörder Harrison Gibson, bevor man ihn 1917 in Montana hängte, sagte es und lächelte, als wüsste er bereits um den Verbleib von Hart Crane, der über Schiffsreeling in den Golf von Mexiko sprang, über der Gischt verhallte sein “Goodbye, everybody!”, “It is very beautiful over there.” flüsterte Thomas Alpha Edison, als er plötzlich wieder hier war, wie aus Meeresgründen zurückgekehrt, wiedererwacht aus bleiernem Koma, Beinahe-Tod, und nach dieser Auskunft endgültig verstarb, „Make it snappy“, verlangte der Mörder Charles H. Simpson, bevor sich die Falltür unter seinen Füssen öffnete und der Strick ihm das Genick brach, “Does nobody understand?” fragte James Joyce mit leichtem Zweifel, gelinde verletztem Stolz, und fügte seinen finalen Atemzug als Epitap Finnegans Wake an, „Ich lebe immer noch“, triumphierte Caligula, gemeuchelt von Dolchstößen im Hinterhalt seiner Gardesoldaten, „Mozart!“ schrie Gustav Mahler und war nicht mehr, „Ich habe schon lange keinen Champagner mehr getrunken“, so Chekovs letzte Worte und „Moose. Indian“, jene von Thoreau, „Ive had 18 straight whiskeys, i think thats a record,“ rief Dylan Thomas, „What time is it? I wish you’d hurry up. I want to get to hell in time for dinner.” dagegen John Owens, ein Desperado am Weg zum Galgen und Karl Marx schrie seiner Haushälterin nach: „Letzte Worte sind für Idioten, die noch nicht genug gesagt haben."
Die Stadt ist eine kollektive Chamäleonhaut, der der Farbreflex erst beigebracht werden muss.
Vorne auf dem Bahnsteig kann sich niemand vorstellen, wie es ist, einen Zug zu malen oder Buchstaben dreidimensional in Länge und Breite wahrzunehmen. Niemand denkt bis in die Tunnel - der Bahnsteig führt zu Rolltreppe und Stufen, zurück nach oben, aber wer denkt schon an die Abzweigung und bemerkt, sich an einer Kreuzung zu befinden. Hörst anbrandendes Kreischen, der erste Zug nähert sich, doch dein Timing ist und bleibt perfekt. Drehst dich um und wartest, bis die Scheinwerfer um die entfernte Ecke kommen. Um die Kurve gejagt entlarvt ihr Licht die verdichtete Dunkelheit als von Betonsäulen, Kabeln und Notausgängen durchbrochene Ader, die Stadt unterhöhlend mit Ahnengeistern und deinen leuchtenden Augen, dem Summen im Kopf, dem Atem, der fast zu einem Singen wird.
Einige Meter vor dir öffnet sich die Station. Die Menschen und Imbissbuden bilden kleine, sterile Inseln, die im Farbenfluss dümpeln. Registrierst im Vorbeilaufen an den Tunnelwänden Tags von Sprayern, die vor Jahren mit anderen Dosen und Stilen hier gewesen waren. Rennst durchs Spalier dieser Zeichen, hier bist du sicher, bei deinen Totemgeistern, den auf Beton bewahrten Ahnen, beschützt von Mauern und Namen, die etwas bedeuten, in Schwarz oder Chrom das unbekannte Wesen brandmarken, den Wirtskörper, durch welchen du hetzt.
Näherst dich aus dem Tunnel heraus dem Bahnsteig. Dumpfes Leuchten klebt auf den Gleisen, als würde die Welt, vor der du dich zurückgezogen hast, dich mit Dreck zu bewerfen versuchen. Seit dem erstmaligen Abstieg ins Tunnelsystem kommt es dir vor, als wärst du der Atem eines riesigen, unsichtbaren Wesens, das dich tief in die Lungen saugt. Ein Luftbläschen oder eine Blutzelle in diesem Organismus, dessen Fähigkeit zur Leidenschaft. Kein Mensch würde erwarten, dass jemand aus dem Tunnel kommt. Wer weiß schon, dass darin nicht nur die Scheinwerferlichter der U-Bahnen existieren, sondern auch das Blitzen von Feuerzeugen und Digicams und Smartphones.
Entlang der Stromleitungen ziehen sich Lichter, rot leuchten Signallampen inmitten des knapp übern Kopf errichteten, warm erstarrten Sternsystems. Erstaunlich, wie die Nacht und die Einsamkeit und die Farben vibrierende Freiheit erschaffen. Der Lack auf den Handschuhen, der Lack auf dem Metall. Der Geruch in der Luft, das Adrenalin in der Blutbahn. Die Lichter, die Stille und darin du, berauscht vom Größenwahn. Diese Aktion ist deine, diese Aktion bist du. Sehnsucht gründet in Buchstaben und Zahlen, Chrom und Tinte, Sehnsucht ist ein durgeknallter, ineinanderverflochtener, ineinandergefloßener, dampfender und aggressiver, köchelnder Sumpf.
Manche treiben den Ehrenkodex so weit, dass sie Atemschutzmasken verweigern und es als Teil ihrer Verpflichtung ansehen, den Aerosolnebel einzuatmen. Vom Lack berauscht den Zug zu malen, ein Farbendonner, der in den Sprühwolken lauert. Die Abhängigkeit vom Aerosol bewirkt zusätzliche Befriedigung, wenn man einen Wholetrain malt und pro Waggon ein Buchstabe die flächendeckend breit verteilte Farbe verlangt, vorzugsweise Chrom. Eine unkontrollierbare Gewalt liegt darin, sich erst ranzuschleichen, den Maschendraht aufzuzwicken und innezuhalten, über Unkraut und Gleise hinweg den ausgewählten Zug zu betrachten, wie für den heimlichen, egozentrischen Liebhaber angerichtet, der den Kameras und Wachtrupps zum Trotz das Stelldichein erzwingt und von einem Vorspiel rein gar nichts hält. Die sentimentalen Augenblicke währen nicht lange, man steht auf, schüttelt im Laufen die ersten zwei Dosen und legt los. Manche bemerken nach etlichen Jahren, dass das Gedächtnis nachlässt und der Wortschatz löchrig wird. Man pumpt Nächte mit aller möglichen Energie voll, damit sie sich aufblähen und wie eine mexikanische Pinata zerplatzen. Und währenddessen sickern die Farben in den Kopf, weichen das Hirn auf, sodass es ein Schwamm wird, den die Zeit ausdrückt und immer auch ein wenig Denkvermögen den Abfluss hinunterschickt.
Graffiti hat – entgegen der Nacht, welche die Aktionen rahmt – mit Licht zu tun. Mit Licht in sämtlichen Formen, Stärken und Wesenszügen. In der Art des Verrates, wenn es bläulich kreisend nach Tätern sucht. In der Sucht nach Schönheit, wenn Bahnsteiglaternen dumpfen Schimmer aufs Zugmetall legen. Und natürlich: das Spielen damit, weil Licht und dessen Stärke, Quellen und Einfallswinkel in die Bilder eingebaut werden, Effekte und Schatten und Bewegung vortäuschen. Das Licht ist die angenehmste, da stillste Illusion, die in der Urbanität zu finden ist; ebenso ehrliche wie Graffiti selbst, diese eine Schicht geiler als der Scheißbeton. Was wären die Clubs, Absteigen und Peepshows nahe der Gleisanlage ohne das neonfarbene Glühen über den Türen, was wären die täglichen S-Bahn-Fahrten ohne den Lack auf den Lärmschutzmauern und Brückenpfeilern.
„Ich bin ein Messer, das die Nacht in Bilder cuttet“, hast du vor einigen Nächten neben eins der Graffitis geschrieben, als Ausgeburt der Romantik, die man sich wegen der ganzen durchgemachten Stunden zugestehen darf, Zitat eines Raps, den du während des Fußmarsches zur ausgewählten Wand in den Kopfhörern hattest. Ein Messer, das der Dunkelheit Narben verpasst. Verletzungen in einer Sprache, die nur wenige codieren können, Wunden, die sich am nächsten Tag farbig in den Augen der Passanten entzünden. Machst alles für das Geheimnis und für die Buchstaben. Wächst in den eigenen Stil, den es in Straßen und auf Zügen zu behaupten gilt. Vermehrt enterst du die Tunnelsysteme der UBahnen, um das tiefer gelagerte Zentrum anzugreifen. Unterhalb der Gebäude und des Asphalts die Dosen ausgepackt, um der Stadt einen Namen ins Erbgut zu schreiben: tiefer rein und persönlicher drauf geht’s fast nicht mehr.
Gerade fuhr ein Wholecar mit dem Schriftzug Night of the Living Dead. Bist dir sicher, dass er von Sprayern stammt, die ausnahmsweise wieder auszogen, um sich einen Kick zu holen, aber eigentlich im warmen Nest von Job und Familie festsitzen. Die bekannte Falle der gesicherten Existenz, von der sämtliche Rapsongs, Eltern und Freunde erzählen, zumindest zwischen den Zeilen. Überall stößt du auf das Bewusstsein, dass esein Ende nehmen wird, weil Malen, Kiffen und Partymachen nur einen Aufschub darstellen, für die Verantwortung, die auf jeden wartet. Glaubst nicht, einmal durch Fotoalben zu blättern und wehmütig die vergangenen Schnappschüsse deiner Heldentaten zu betrachten. Weil du aber gewöhnt bist, Fluchtwege offenzuhalten, stellst du dir vor, mit beispielsweise Dreißig zwar der Nostalgie verfallen zu sein, abereine Ahnung von der Nacht zu besitzen. Falls sie dich doch kriegt, die Polizeieinheit aus Zukunft und Liebe, wirst du gelegentlich an Dosen riechen und zwei, drei Mal im Jahr bomben gehen, wirst die Hände in der Jackentasche zur Faust ballen, die Kapuze in die Stirn ziehen und dich gut fühlen, erregt, weil der Abgrund noch da ist, zwischen dir und den Anderen. Tagsüber wirst du am Rand des Bahnsteigs auf durchfahrende Züge warten. Exakt auf der Linie, die von den Gleisen und der Gewalt des durchbretternden Zuges trennt, die Augen schließen, wenn 5 cm entfernt der Zug vorbeisaust. Lärm wird die Ohren füllen, den Kopf, ängstigend bis in jede Körperzelle dringen. 5 cm, die Selbstmord vom Alltag trennen. Im Rücken ein Leben, das den Worten der älteren Sprayer zufolge eine Mischung aus Arbeit und Frau sein muss. Vor Nasenspitze und geschlossenen Augen der rasende Zug, als Verkörperung der Kraft, die in Erinnerungen steckt, erneut beschworen, die Erinnerungen an Züge und Tunnel und haarscharf um 5 cm überlebte Aktionen. Im schlechtesten Fall, denkst du dir, wird dein Leben mit 30 ungefähr so ablaufen.
Man braucht die pigmentierte Version des Überlebensinstinkts, um Absperrungen zu durchbrechen und sich selbst als Farbpartikel im Graubereich des Systems zu deklarieren.
Mit dem Entern der Straßen wandelt sich die Stadt zu einer Haut, die auf besondere Berührungen wartet. Wer um diese Zeit noch wach ist, ist entweder betrunken, verliebt oder auf einer Mission. Manchmal vereinigen sich sämtliche dieser drei Beweggründe in einem einzigen Menschen, der knapp nach Mitternacht durchs löchrige Spalier der Laternen wankt und im Rucksack ein paar Spraydosen mit sich trägt. Fürs mentale Make-Up lieber ein paar Nächte Fame jagen, als den alltäglichen Konsens zu akzeptieren. Man braucht die pigmentierte Version des Überlebensinstinkts, um Absperrungen zu durchbrechen und sich selbst als Farbpartikel im Graubereich des Systems zu deklarieren.
Die durchdachte Ordnung der Fahrpläne und Schaltkreise paktiert mit dem schwebenden Chaos aus Lichtquelle und Finsternis. Diese Streifzüge machen glaubhaft, dass alles möglich ist und es eine unsichtbar die Umgebung speisende Stromschiene gibt, die als gänsehautverschaffende Energie geentert werden kann. Irgendwo draußen mit dem unsagbar guten Gefühl, dass es in Ordnung ist, rumzugammeln und den Himmel oder die Laternen anzustarren, hungrig zu sein, auf mehr Spaß oder Adrenalin, und zugleich richtig glücklich, dieses Wollen überhaupt zu spüren. In solchen Momenten lässt sich alles aufzählen, wie die sternlose, die bewölkte, die beschrieene, verfluchte, zärtliche, die von Signalen leuchtende, fiebrige Nacht beispielsweise. Jedes Ding und jeder Zustand lassen sich nennen, um ein Alphabet zu deichseln und daraus wiederum vier Buchstaben. Du denkst an Mädchen, bei deren Anblick du tagsüber einen Stich und das Verlangen, eine Zigarette zu rauchen, gespürt hast, einfach, weil sie zu schön waren. Dieses Gefühl steckt auch drin im Bild, das noch zu malen ist, später, wenn nicht die vereinzelten Lichter faszinieren, aber der Kopf in Farben begraben wird.
Die einzige Macht, die wirklich etwas verändern könnte, müsste bis in den Schlaf der Menschen vordringen. Müsste Träume infiltrieren, umpolen. Aber wenn man schon nicht in den Schlaf der Anderen gelangen kann, lässt sich dieser immerhin als Tarnung benützen. Du bist von Beginn an jemand, der gern durch die Stadt spaziert und sich mit sämtlichen betrunkenen oder wandernden oder schlaflosen Menschen verbunden fühlt. Es ist vollkommen gleichgültig, ob die Streifzüge in dieser Stadt oder in einer anderen geschehen. Die Einsamkeit, die draußen möglich wird, entwickelt einen Sog, der ins ekstatische Zentrum des Abenteuers reißt. Verankert in der Dunkelheit stehst du an einem Straßeneck nahe dem Bahnhofsareal und betrachtest die aus Laternen, Stromleitungen und Gleisen unberührt bestehende Welt.
Zwei Miszellen:
Insgeheimes Lebensmotto: Kleidung optional. (Weil gerade Viennale samt Will Ferrel, und auch, weil es selbst in Blades of Glory große Momente gibt).
Warnung: Rauch kann versteckte Laserfallen entlarven. (Idee für die Aufschrift einer Zigarettenpackung)
(Wider das Wissen, dass in der Genesis an keiner Stelle von einem Apfel, sondern nur von einer „Frucht“ zu lesen ist, im Folgenden Textpassagen der Performance Malus – Ein performatives Lehrstück über Äpfel, Obstbau und paradiesische Schweinereien, mit Fabian Faltin am 26. Oktober 2013 beim Hoergerede-Festival in Graz gegeben:)
III. Während Geilheit wie ein Giftstachel ins Fleisch dringt, kommt Lust unverhofft und schnell wie Kains Axt, daher auf ein neues, erstes Mal die Stimmen, Farben suchen, das Luft und Licht durchstöbernde Begehren, unterm Atem verklungen überrannt, weil Atem stärker wird, und mehr verlangt, als alltägliche Zungen zu fordern vermögen, weil Zungen jetzt mehr brauchen, mehr Geschmack und mehr von allem. Ein letztes Schauen nach Beobachtern und dann endlich: Konzentriert ihr euch aufeinander, seid zu zweit allein in Verstecken, wo Wald und Himmel implodieren zu Vogelflirren, Flügelschatten.
Beißt in den Apfel und dadurch in das Fleisch des Anderen: im Mund das Wissen um die Schönheit dieses zweiten Menschen. Zu zweien gereimt bedingt, könnt ihr solang vertieft ins Blätterrauschen ausharren, wie es nur Liebespaare tun, wählt Apfel und Schönheit Apfel und Vergänglichkeit an stillverschwiegenen Orten sich in einer Vehemenz lieben, die die Welt dort draußen formt: Laut, undurchsichtig, zerstörend, sagt fühlt ihr, welche Möglichkeiten jetzt warten, merkt ihr: An euch spürt sich das Paradies, seid dieses eine Quäntchen Verlangen, das hier noch Mensch bedeutet.
II. Der Apfel ein Spiegel, der im Wald hängt und auf euch wartet, ihr beide genügt, diesen Spiegel zu zerschlagen und endlich ganz zu sein. Auf dem Rücken glänzt der Speichel des Anderen, als wärt ihr damit beschäftigt, Engelsflügel auszuschwitzen.
I. Es beginnt mit einem Biss, einem vorsichtigen Einverleiben, der säuerliche Geschmack wie eine Scherbe, aus dem Himmel gebrochen und sich die Adern damit geöffnet, die Adern und mit ihnen die Augen, schaut, es gibt Alternativen: Dieses Verstehen rinnt die Speiseröhre hinab, sämtliche Vorstellungen von wegen Liebe durchtrennend, Gott ist ein Totengräber, glaubt es mir, er schaufelt, bis ein Loch in euch ist, schwarz und feucht und da legt er sich rein als Lüge von wegen Auferstehung den Apfel in der Hand als brennendes Holzscheit: Lasst es nicht fallen, sondern werft es, zielt damit auf etwas mächtiges, befehlendes, etwas gläsernes, wolkiges (was habt ihr schon zu verlieren) als Paradiesvogel in der Hölle oder als glimmende Kohle am Ufer des Flusses von Milch und Honig verstärkt jeder weitere Biss den Hunger, der dunkel spürbar ist, weil sich das Leben in den Augen des anderen festkrallt und blitzt und lockt. Vergesst, dass ihr eigentlich nichts wissen dürft von Verlangen und Gegenwart, als würde die Welt erröten wurde es ein jedes Mal finster, wenn die Ahnung kam, dass Sex eine Spielart der Metaphysik ist, diesseitig zwar, aber trotzdem: Zwischen Bissen schlägt Luzifer Flügel und zungenschnalzend euch das Hirn in Scherben, zwischen ungreifbarem Himmel und dem mit Leidenschaften überschwappenden Lebenstrog der Erde, ihr zwei verirrte Vögel, von Langeweile aus dem Flug gebracht.
Nirgends Tränen.
Weil nirgends Tränengas.