Roma, Martedì 16 Aprile – Irgendwo hinter Tiburtina
Und jetzt fehlen mir doch die Worte. Dabei hab ich noch, beim Fotografieren von diesem Himmel und diesen Linien und diesen Gittern und den abbröckelnden Fassaden, noch gedacht: Und was ich nicht
aufs Foto bannen kann, das erzähl ich dann. Der Wind, wie er Abfall über die Straßen treibt, aber nicht wegträgt, nein, hin und her, vor und zurück, so dass die Zeitungen immer mehr zerfleddern,
die Prospekte von sechs Pack Orangensaft zu einem fetten Preis in einem gelben Stern. Oder die Hitze. Oder die Kirschblütenschicht über der Hundescheisse, die dir dann rosa am Schuh klebt und
sich mit dem Geruch von versengtem Staub und Dreck vermengt. Noch sind da Farben, aber man merkt schon, wie sie unter der Hitze bald verblassen werden. Und dazwischen Menschen in Armeleutemode,
die immer etwas greller, immer etwas verwaschener, etwas enger, etwas muskulöser, etwas greller geschminkt und ohne Ironie getragen wird, dazu Plastik und dazu Plastik.
Und diese Häuser, die an den Fassaden auszufransen, deren Balkone überzuquellen scheinen (sogar der Beton scheint im Frühling ein wenig aufzublühen), deren Unterhemden am Wind reißen und deren
Wäscheleinen die Häuser überhaupt erst zusammenhalten. Und wie mich dann, als ich über die Autostraßenbrücke gehe, als ich wieder Fotos machen muss, weil diese Tiburtina-Zugstation so schräg in
der Landschaft steht, mit ihrem 70er-Chic, der schon jetzt nicht mehr retro, sondern veraltet wirkt, bevor sie fertig gestellt ist, die jemand hier so gedankenlos reingepflanzt hat, dass ich mich
in diesen Unsinn sofort etwas verliebe, vor dem alle Menschen, die da rumstehen, auf eine seltsame Art einsam wirken.
Titel: ro(a)m
Jedenfalls, als ich die Brücke geschafft und zur Station runter, den Gleisen entlang, stehen bleibe, weil ein jahrhundertalter Baumstruck alles so schön kontrastiert, als hätte ihn ein junger
weißer wütender Künstler dahin gestellt, plötzlich ein Mann anspricht, eine Gitarre aufm Rücken, graue Haare, sieht bisschen aus wie der Red Hot Chili Bassist, sagt etwas auf Englisch, ich
verstehe ihn auf Italienisch nicht, sweet illusions steht zwischen den Gleisen an ein kleinen Betonschuppen gesprayt, er deutet mit den Händen hin, ich bin immer noch so erschrocken,
dass ich ihn nicht verstehe, obwohl ich ganz gut englisch spreche. Er versucht es weiter, will er, dass ich das fotografiere?, will er mir zeigen, dass genau das alles zusammenfasst?, das alles,
diese Landschaft, dieses Leben, will er mir sagen, dass ich mit meinem Fotoapparat dazugehöre? Weil ich ihn nicht falsch verstehen will, verstehe ich ihn gar nicht, bevor er es ganz aufgibt,
entfährt ihm ein heiseres Lachen – ein halber Zahn wird sichtbar – das kaum seinen Mund verlässt, und ich hab erst noch gedacht, ob er Geld will, überhaupt, was er von mir will, und hab ich ihn
deshalb nicht verstanden? Und sein Kumpel, den ich erst dann bemerkt hatte, verabschiedet sich ebenfalls lachend, ich mich auch, immer noch mit diesem fragenden Blick. Und denke, das wär´s
gewesen, ein Römer, der reden will, endlich einer, der die Stadt anschaut, auch wenn es vielleicht in einem Spruch endet, einem Liedtext, denk ich immer, meint er Guns n´Roses, Sweet child of
mine, auf Use your illusions, meint er das, hat er deshalb so seltsame Gesten mit den Händen gemacht, dass ich gleich das Pflanzengewachse auf Chilli Peppers‘ Blood, sugar sex
and Magic vor mir gesehen hab. Was hat er gemeint, denk ich, und denk noch im Gehen, das war meine Chance, endlich in ein Leben in Rom einzutauchen, Drogen, denk ich, Absturz, denk ich, und
Glück verpasst, in einer Szene weit weg von diesem Institut, einem Sommer auf der Straße, nein, das denk ich erst jetzt, jetzt, wo ich auch denk, diese Sehnsucht nach dem anderen Leben, dass das
erstens das Leben ist und dass es zweitens dumm ist, dass ich doch sehr intensiv lebe in meinem Zuschauen, dass ich mit allen Sinnen zuschaue, dass mir Dinge passieren, ja zustoßen, meine Blicke,
mein Riechen, ganz unvorhergesehen, in diesem Tiburtina, wie das Nießen, das mich in plötzlichen Schüben überkommt, fünf, sechs Mal, so stößt mir doch auch mein Sehen zu, so lebe ich doch auch
hier, in meinem Turm, es gibt nur ein Leben, egal, wie man es nennt, und es ist immer ein Leben, ein gutes, und alles andere ist Hirnwäsche von Revolutionären und Verkäufern, von Anlagestrategen
und Philosophen. Es gibt nur, was ich seh, und es gibt es nur, wenn ich es seh. Wer hat das gesagt? – Heimat ist, was zurückbleibt, wenn man unfreiwillig reist. Erfahrung ist, was man macht, wenn
man nicht mehr weiter weiß.
4. febbraio 2013 – Napoli
So wie Rom in meinen herrlichsten Klischeevorstellungen, nur düsterer – als ob mein schönster Albtraum wahr geworden wär.
Nehme die Straßenbahn Nr. 2 stadtauswärts, Richtung Osten, darin nur uralte, hinkende, graue Menschen, in deren Gesichtern das Leiden sich eingegraben hat – als ob die Tram die Toten zur Stadt
hinauskarrt. Rechts durch Gassen und Hinterhöfe ist das Meer verlassen und glitzernd zu sehen, außerdem Fabriken, ganze Areale, nicht Gras wächst aus den Mauern, ganze Bäume sind es. Und immer
wieder denke ich, wie schreibt man über etwas, was man nicht begreift, aber sieht – und nur darüber will ich doch schreiben.
An einen Mann habe ich gedacht, der immer mehr reinrutscht, der erst nur dort kauft, dann auch mal weiterhandelt, dann ganz drin ist. Oder auch einfach nur weiter ein Spazierender bleibt, aber
immer weniger nach Hause geht, sich niederlässt in der Straße. Nicht der Alkohol wäre es, auch wenn es möglich wäre, dass er trinkt. So will es die Straße. Auch auf der Straße gibt es eine
Normalität, nur eine andere, aber auch sie gilt.
Vorerst gehe ich einfach immer weiter. Auch hier will die Stadt nicht enden, wäre da nicht am Horizont manchmal der Vesuv. Komme vorbei an Plakatwänden ohne Plakate, von Rost zerfressen, gewellt,
zwanzig stehen wie ausgemusterte Krieger in einer Reihe. Eine Katze schleicht herbei, eine mit erloschenen Augen, das Ohr eingerissen, und schmiegt sich plötzlich gegen mein Bein, lässt sich
förmlich dagegen fallen, doch als ich ihr übers Fell streichen will, das sich verfilzt und wie Geschwüre unter der Haut anfühlt, weicht sie zurück. Weiter vorne sitzt ein Mann auf einem
umgekippten Eimer, auf zwei weiteren Eimern zwei große, runde, flache Wassergelten, in denen Heringe dahintreiben – hier herrscht nicht die Mafia, die Armut ist es. Als ich plötzlich, angezogen
von einer Stimme, in einer Kirche lande. Es ist eine Frauenstimme aus einem Lautsprecher, die Frau steht mit dem Rücken zu den Bänken, sie liest die Messe. Vielleicht 40 Menschen, fast nur
Frauen, in den vorderen Reihen. Es klingt schön, die Stimme der Frau, die nie durch Heben oder Senken die Satzenden anzeigt, viele Sätze wiederholt und wiederholt und dann plötzlich aufhört, dass
die Stille so überraschend eintritt, dass ich ihr für einen Moment nicht traue.
Lunedi, 11. febbraio 2013 – Fulmine!
Tempo: Im italienischen ist das Wort für Wetter und Zeit das gleiche.
10. Ottobre 2012 – Al Mare
Als ich zum Meer komme, nicht Glück, sondern Erleichterung. Dass das Meer noch da ist? Eher wie ein Nachhausekommen und Jacke und Tasche einfach aufn Boden schmeißen.
Dann: Was nun? Rauchen tue ich nicht mehr. Könnte mit dem Handy ein paar Fotos schießen, aber das Meer sieht hier auch nicht anders aus als sonst. Also stehe ich nur da und schaue aufs Meer und
weiß dann plötzlich nicht mehr, was fühlen. Für einen Moment überlege ich einfach umzukehren und wieder zu gehen, aber ich überlege einen Moment zu lange. Ziehe die Schuhe aus, kremple die Hosen
hoch und gehe los. Am Strand nur ein paar Rentner, deren Haut so ledrig aussieht, als ob sie sich im Frühling hingelegt hätten und nun nicht mehr aufstehen wollten, außerdem ein paar angespülte
Riesenquallen, violett schimmernd. Rechts zweimeterhohe Sandmauern vor den geschlossenen Dusch- und Baranlagen. Ab und zu ein Steinsteg ins Meer raus mit Fischern drauf – gäbe es sie nicht, die
Tourismusbehörde müsste sie erfinden. Auf einem gehe ich auch raus, Krebse fliehen vor mir in die Spalten der aufgeschütteten Steine, ich würde gern etwas zum Fischer sagen – aber mein
Italienisch…; und wenn ich was sage, dann nur, was ich sagen kann, nicht, was ich sagen will. Auf dem letzten Stein bleibe ich stehen und schaue ein bisschen aufs Meer raus. Darum mag ich wohl
große Schiffe, weil sie mir das Meer erklären: weit. Als ob das Meer, so ganz ohne etwas, kaum Wellen, gar kein richtiges Meer wäre – immerhin der Geruch.
Nach einer Stunde, von der ich wohl eine halbe immer wieder stillstand und aufs Meer schaute, der Hafen. Er ist neu, oder zumindest die Anlage. Gibt es Menschen, die nur Hafenmauern entwerfen und
bauen. Hafenmauerarchitekt, das will ich werden, wenn ich groß bin. Als niemand schaut, pinkle ich ins Meer, und stelle mir vor: wie ein Hund, der markiert – mein Mittelmeer jetzt,
mein!
11. Novembre 2012 – Fontana di Trevi
Dass hier niemand aus Rücksicht vor Fotografierenden wartet, um nicht durchs Bild zu gehen – ob das auch schon vor der digitalen Fotografie so war? Und wenn nicht; all die Räume, die dabei
entstanden sind, leere Räume inmitten von Touristenansammlungen: eine schöne Vorstellung.
Martedi, 17. Oktober 2012 - Rebibba
Wie immer, wenn ich aus einer U-Bahnstation hochkomme, habe ich die Orientierung verloren, bleibe aber nicht stehen, tue so, als ob ich diesen Weg täglich gehe. Vielleicht, dass ich im Gehen
nicht sprechen muss, dass ich deshalb so gerne gehe, denke ich und gehe weiter. Komme an einem großen Knast vorbei, an dessen Gitterzaun ein Paar steht, dass Sätze in den Hof brüllt, die von den
Mauern als einzelne Wörter zurückgeworfen werden. Dann ein paar Möbelgeschäfte (wer neue Möbel braucht, braucht auch ein Auto), ich überquere die Straße, an der Seite des Knasts: ein Mann mit
Knopf im Ohr und Knarre im Halfter, steht da und nickt mir zu. Ich kehre um, weil der Kanal, zu dem ich wollte, längst hätte kommen sollen. Wieder zurück, an der U-Bahnstation vorbei, und nehme
die Straße einen kleinen Hügel hoch, wieder einmal empfängt mich plötzlich ein Dorfgefühl, zwei Bars direkt nebeneinander, gut besetzt, ein Früchtegeschäft und eines für Zeitungen und Tabak, das
ist die kleinste Dorfeinheit. Ganz Rom kommt eigentlich nie über diese Dorfstruktur hinaus. Dann beginnen die ersten Sozialblöcke, grau und von farbiger Wäsche verhangen, gehe zwischen ihnen
hindurch, dann einem Park entlang, der leer ist, wie alle Parks in der Peripherie, rechts von einem Parkplatz geht ein Wiesenweg weg, den nehme ich, ich spüre, ich bin nah am Kanal, dann wieder
ein Sträßchen, völlig zugewachsen, ein kleiner Platz, an dem ein Häuschen steht, davor ein Auto und auf der Kühlerhaube eine weiße Katze, deren Nase so schwarz ist, dass es aussieht, als wäre sie
ihr in der Sonne weggeschmolzen (weggesengt!) worden, und zurück blieb eine dunkle Kruste. Danach wächst die Straße noch mehr zu, am Boden abgebrochene Kakteen, neben leeren Petflaschen und einer
halben Matratze. Eidechsen springen zur Seite, wo ich durch spaziere, für einmal stinkt es nicht nach Pisse. Das Sträßchen ist kaum mehr ein Weg, als sich hinter ein paar Bäumen eine große Wiese
öffnet, auf der ein Fußballtor mit einem halben, schlaffen Netz steht, als plötzlich am anderen Ende ein weißer Kampfhund geräuschlos auf mich zuzurennen beginnt. Ich drehe mich um, sehe gerade
noch, dass hinter dem Baum auch ein Mensch hervorkommt, dann schaue ich nicht mehr zurück, bis ich mich wieder auf einer Straße vor einer Wohnsiedlung befinde. Gehe weiter, durch sie hindurch,
dann gläserne Bürokomplexe, aus denen vereinzelt Schlipsträger und selten auch ein oder zwei Frauen kommen. Fühle mich plötzlich sehr fremd. Fremd gehen – so müsste ein Text über diese
Spaziergänge heißen. Zwei Stunden bin ich schon unterwegs und langsam habe ich Hunger. Ich denke daran, wie ich als Kind einmal mit meinem Vater auf einer kleinen Wanderung war, dass ich da
extrem hungrig war, als wir einen Gasthof betraten, dass ich verschwitzt war (das gab’s bei mir als Kind sonst fast nie), und als ich dann meinen Cervelat aß, mir vorstellte, wie die Leute
dachten, ich sei ein Landstreicherkind und hätte schon seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen – und der Cervelat schmeckte sehr sehr gut. Dann wieder ein Weg, immerzu Scherben und Abfall
darauf, Gestrüpp, Gekraut, dann aber plötzlich auch neugepflanzte Bäume, die eine Allee bilden, ich gehe ihr entlang, runter, am Ende sehe ich eine großen Sozialbau, im Stil von Plattenbauten,
nur farbig dieses Mal, von dort steigt Kindergeschrei, wie ein Krähenschwarm, in den Himmel, immer lauter, je näher ich komme, hunderte von Stimmen, wahrscheinlich ein Pausenhof – ein Kind wird
mir nie begegnen. Bevor die Siedlung beginnt, biege ich rechts ein, eine riesige Wiese, Heide, Weise, riesig, tut sich vor mir auf, mit nichts als manchmal einem Strommast, dessen Sockel besprayt
ist, nichts, was man lesen könnte. Dass ich noch in Rom bin, mitten in Rom, oder zumindest nicht ganz am Rand, denke ich, und dass ich mir wünsche, bei einem meiner Spaziergänge plötzlich nicht
mehr zu wissen, wo ich bin und wenn ich frage: nicht mehr Rom, zu weit gegangen. Und bleiben. Als ob ich es nicht schaffe der Stadt zu entkommen, egal, wie viel ich gehe, egal wodurch, sie hört
nicht auf, und immer dieser Geruch von Land, von Pinien und Sonne und meinem Schweiß – und irgendwoher auch immer der Geruch von Essen. Dann, am Rand ein großer Parkplatz, so groß wie drei
Fußballfelder und nur zwei Autos, eines davon eine Autoruine, ein Wrack (schönes Wort), ausgebrannt, das einzig Weiße: vorne prangt es blank und verdutzt, ein Linzer Nummernschild. Das Auto aber
auch innen wie ausgenistet, zerpflückt und in Asche, nicht mal mehr Scherben von den Scheiben sind zu sehen. Daneben ein normaler brauner Fiat und am Ende vom Parkplatz ein Lidl – ich bin
mittlerweile schon vier Stunden unterwegs, kaufe mir für 19 Cents eine Flasche Wasser –, darin drehen Männer in Trainerjacken ein Marmeladenglas für 99 Cents mehrmals in der Hand, bevor sie es
zurück ins Regal stellen, und beim Ausgang bettelt jemand.
Erst wenn man sich in einer Stadt verläuft, wird man Teil dieser Stadt.
Wenn ich noch zehn Jahre weiterrauchen kann – immer wieder hatte Mutter diesen Satz gesagt; wenn ich noch zehn Jahre weiterrauchen kann, sagte sie, bin ich zufrieden. Steckte sich eine Muratti an und lächelte mir zu, mehr mit den Augen als mit dem Mund.
Sie sagte den Satz auch dann noch, als ihre Schwester Susanne sie zwei Jahre nach Doktor Kerns Prognose, sie habe höchstens noch ein Jahr, zum letzten Mal ins Triemlispital einlieferte und sie – noch keine fünfzig Jahre alt – bereits zu schwach war, um sich selbst eine Zigarette anzuzünden. Mindestens einmal pro Stunde musste man sie ins Treppenhaus schieben; wenn ich an der Reihe war, zündete ich immer gleich zwei an, während sie aus dem Fenster im vierzehnten Stock schaute.
Draußen Zürich; in jenen ersten Tagen des neuen Jahrtausends im Nebel wie stillgelegt. Und ich stellte mir vor, wie Mutter fast dreißig Jahre zuvor am Hauptbahnhof aus dem Zug gestiegen war, mit ihren seltsam langen Beinen und den hellblonden Haaren, die sie zu Zöpfen geflochten hatte. Eigentlich wollte sie nur ein paar Tage bleiben, dann aber verliebte sie sich sogleich und so sehr in diese Stadt, dass sie nachts ihre Häuser besetzte und tagsüber in einem kleinen Blumenladen an der Aemtlerstraße Sträuße an die anderen Verliebten verkaufte. In der Küche eines der besetzten Häuser an der Venedigstraße, in das sie sich gleich am ersten Abend nach ihrer Ankunft verirrt und wo sie sich schon am zweiten Abend die Zöpfe mit einem Brotmesser abgeschnitten hatte, lernte sie auch den Mann kennen, den sie später nur noch »deinen Vater« nannte. David Mourlin, geboren 1946, bekannt. So steht es in seiner Akte des Staatsschutzes, die er mir, nachdem ich ihn vor ein paar Monaten zum ersten Mal überhaupt getroffen habe, kommentarlos zugesandt hat. Als ich noch ein Junge war, erzählte mir Mutter bloß, dieser David habe ihr die Welt so wunderbar erklären können, dass sie anfangs kaum mehr geschlafen habe. Zur Arbeit aber, schob sie schnell und etwas verlegen nach, sei sie trotzdem nie zu spät gekommen.
Doch irgendwann hatte sie aufgehört, über ihn zu sprechen, so wie sie, nachdem sie mir gesagt hatte, ihre ganze Wirbelsäule sei voll mit Metastasen, aufhörte, über den Krebs zu sprechen. Auch über den Tod und die Zukunft sprach sie nicht mehr und erst recht nicht darüber, dass ich versprochen hatte, ihr zu helfen. »Wenn es gar nicht mehr anders geht, Joris, dann musst du …«, hier hatte sie kurz gestockt, »wenn ich nur noch Schmerzen hab und dalieg, dann musst du mir helfen, ja?!« Dabei schaute sie mich an, schaute und schaute, bis ich nichts anderes mehr tun konnte als nicken.
Das Schweigen aber hatte schon früher begonnen. Es war schleichend gekommen, wahrscheinlich sprachen wir immer weniger, bis es mir irgendwann auffiel, plötzlich, und nur dieser eine Satz übrig blieb: Wenn ich noch zehn Jahre weiterrauchen kann, bin ich zufrieden. Immer und immer wieder wiederholte sie ihn, als würde sie von Muratti dafür bezahlt. Manchmal hatte sie eine Art Trotz in der Stimme, manchmal lächelte sie verschmitzt dazu, als reiche das aus, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen; und nie änderte sie die Anzahl der Jahre.
Wenn ich ihr im Spital die brennende Zigarette zwischen die spröden Lippen steckte, nuckelte sie mehr daran, als dass sie inhalierte; ich erzählte ihr irgendetwas und folgte dabei ihrem Blick aus dem Fenster. Manchmal aber schaute ich einfach nur sie an, wie sie mit der linken Hand ihren Weihnachtsbaum festhielt, so nannte sie den Ständer, an dem die Infusionsbeutel hingen, und mit der rechten Hand die Zigarette. Ihre Finger waren dürr geworden, und ihre Knöchel standen heraus wie eine verwachsene Wirbelsäule. Die Nägel waren grellrot, was mir unpassend erschien, auch wenn Rebekka sie ihr lackiert hatte.
Obwohl die beiden sich da erst vier Monate kannten, umarmte Rebekka sie zu jeder Begrüßung, brachte ihr Blumen mit, die sie aus der Cafeteria für sie geklaut hatte, und fragte, als ob es das Normalste auf der Welt wäre, wie es ihr gehe. Zwar antwortete Mutter auch ihr nur mit einem nichtssagenden Nicken, und ich war froh darüber, dass sie sich zu verstehen schienen; manchmal aber befremdete mich diese Nähe zwischen den beiden.
Doch nicht nur Mutters Hände fielen mir auf. Ich ertappte mich dabei, dass ich versuchte, mir andere Details zu merken, innerlich Fotos von Mutter machte im Wissen, dass später doch immer etwas fehlen würde. Manchmal führte ich gar tonlose Selbstgespräche: blaue Augen – gräulich blaue Augen, korrigierte ich mich –, eine sehr gerade Nase, altersblonde Haare und dieser Geruch, vermischt mit parfümiertem Tabak, so vertraut, dass ich nicht sagen konnte, ob es überhaupt einer war. Manches wiederholte ich, als ob ich Vokabeln büffelte; und während ich mir einprägte, wie sich Mutter im Rollstuhl an ihre Zigarette klammerte, hatte ich gleichzeitig Angst davor, dieses Bild nie mehr aus dem Kopf zu kriegen.
Auszug aus dem Roman: Das Ende der Schonzeit