Adieu
Wie es mit Vera weitergegangen ist, liegt auf der Hand. Mit einer wie Vera geht es nie weiter, nirgendwohin. Ich habe ihr abgeschworen, wie man einer Religion abschwört. Mag sein, dass sie sich
noch malen lässt, auf Parkbänken liegt und, Gott behüte, auch wieder einmal ins Theater geht. Ich sagte ihr noch: "Adieu", sie sagte gar nichts, hob nur träge ihren Arm, wie um zu winken, aber
winkte dann doch nicht. Sie hing nicht sehr an mir. Sie hatte einmal gesagt, dass all ihre Bekanntschaften kamen und wieder gingen, aber in einem so ausgeklügelten Taktsystem, dass sie niemals
einsam war. Irgendjemand war immer da. Vera war die Einzige, die niemals einsam war, obwohl sie an niemandem hing.
Ich trat auf schneenasse Straße hinaus und blinzelte in die Sonne. Vor einem Monat war Silvester gewesen, ich konnte die Anzahl meiner gebrochenen Vorsätze nicht mehr mit den Fingern abzählen.
Ein Vorsatz aber gehörte jetzt nicht mehr dazu: "Vera verlassen. Beginnen zu sein."
Stilfragen
Mein Stil ist mir abhanden gekommen - wenn ich denn je einen besaß. Es kam mir schon so vor, dass ich einen gehabt hätte. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher scheint es
mir, dass dieser verloren gegangene Stil eigentlich auch gar nicht meiner gewesen war. Ich hatte ihn mir wohl irgendwo ausgeborgt, und der rechtmäßige Besitzer hat ihn sich nun zurückgeholt. Oder
aber niemand hat ihn zurückgeholt und der Stil liegt jetzt noch irgendwo, vielleicht auf der verdreckten Sitzbank in einer U6-Station. Oder aber ich habe nie einen Stil besessen, und mein
früherer Eindruck war eine optische Täuschung. Eines ist sicher: Nun bin ich völlig stillos. Ich bin völlig uneinheitlich - so als Ganzes: Ich trage Jogginghosen zum Blazer und denke, dass
Kommunismus irgendwie gut wäre, wenn ich mir dann immer noch schöne Dinge kaufen könnte.
Gedicht über die körperliche Liebe
rein raus rein raus rein raus rein raus
rein raus rein raus rein raus rein raus
rein raus rein raus rein raus rein raus
rein raus rein raus rein raus rein raus
rein raus rein raus rein raus rein raus
rein raus rein raus rein raus rein raus
rein raus rein raus rein raus rein raus
rein raus rein raus rein raus rein raus
rein raus rein raus rein raus rein raus
rein raus rein raus rein raus rein raus
rein raus rein raus rein raus rein raus
rein raus rein raus rein raus rein raus
und da kannst du noch von glück sprechen!
Schifoahrn
Die Wintersportwelt bebte. Entgeistert fragte der Sportmoderator, was denn da passiert sei: Marcel Hirscher statt am Podest weit abgeschlagen, irgendwo unter „ferner liefen“, zwischen Nationen
ohne Schnee. Hirscher antwortete schulterzuckend: „Schlecht schig’foahrn.“ Er sagte das, als hätten Weltbeben immer so logische Hintergründe. Wahrscheinlich stimmt das sogar.
Fegefeuer
So ein bisschen Fegefeuer ist gar nicht so schlecht, sagt meine Oma, da hat man endlich einmal Zeit für seinen Schmerz. Da kann man sich ganz und gar auf sein Leid konzentrieren. Im hiesigen
Leben kommt es doch immer etwas ungelegen. Wie schade, sagt meine Oma, dass die katholische Kirche das Fegefeuer abgeschafft hat. Oder zumindest ist der Papst sich nicht mehr so sicher mit dem
Fegefeuer, wie er es vor Luther war. Und niemand kümmert sich darum, wann meine Oma ihre Trauer nachholen soll.
Melonen
Wäre ich ein Obst, wäre ich eine Melone. Man fände mich im Fruchtsalat, in Wahrheit aber wäre ich ein Kürbisgewächs. Weder das Obst noch die Kürbisse würden mich wirklich akzeptieren. Und wir
Melonen untereinander wären auch keine Artgenossen: Die Zuckermelone ist enger mit der Gurke verwandt als mit der Wassermelone.
Mechthild
"Findest du nicht auch", fragte Vera einmal, "dass hässliche Leute immer auch hässliche Namen haben?"
"Das stimmt nicht", protestierte ich, "ich kenne eine Mechthild, und das ist die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe: Beine bis in den Himmel, sanft gerundete Hüften und eine schlanke
Taille, weiche Brüste, Haar wie blonde Seide und ein symmetrisches Gesicht mit Katzenaugen und Kirschmund. Was sagst du dazu?"
Vera lachte. "Ja, aber jetzt stell dir vor, diese Mechthild würde Vera heißen! Ist sie jetzt nicht noch viel schöner?" Ich stellte es mir vor, und irgendwie hatte sie recht.
Als alles lag
Und es kam der Tag, an dem kein Europäer mehr aus seinem Bett aufstand. Kein Franzose zog los, um Baguette zu kaufen. Keine Holländerin fuhr Fahrrad. Kein Schwede aß Fleischbällchen, keine Britin
trank Tee. Kein Grieche streikte – oder alle Griechen streikten, da ja niemand in die Arbeit ging. Und es führte auch niemand weniger klischeehafte Tätigkeiten aus: Alles lag.
Gerüchten zufolge bewegten sich aber die Asiaten sehr wohl noch, aus purem Pflichtgefühl. Und es hieß auch, dass der eine oder andere verrückte Amerikaner noch durch sein Leben ging. Und von
Afrika hörte man wie immer nichts, weil es zu deprimierend hätte sein können. Und eigentlich hörte man von nirgends mehr etwas, weil alle Zeitungsredakteure und Radiosprecherinnen, alle
ZiB-Moderatoren und Onlinejournalistinnen, weil alle, alle im Bett lagen. Es hätte auch niemand geschafft, sich zur nächsten Zeitung, zum nächsten Radio oder sonst wohin zu bewegen.
Nur eines ist aus sicherer Quelle überliefert. Der deutsche Kanzler sagte unter Aufwendung der letzten Kraftreserven seiner Kiefermuskulatur am Telefon zur Präsidentin von Frankreich: „Oh, sehen
Sie nur, wir sind vor Angst gelähmt!“
Aber sie konnte ihn nicht hören, denn der Hörer lag viel zu weit weg von ihrem Ohr.
Vergebung
Natürlich habe ich ihm vergeben.
Aber wenn ich wüsste, dass der Junge, der mir damals in der dritten Klasse die Vorderzähne eingeschlagen hat, nun fett geworden ist und ganz zahnlos an seiner Drogensucht krepiert, könnte ich
ruhiger schlafen.
Oder zumindest sollte er nicht so glücklich sein wie ich. Das würde schon reichen.
Schöne Dinge, zwei
An den Händen hat sie Küchengerüche und mag es nicht, wenn der Bub am Abend im Gasthof sitzt. Einmal am Tag muss eine warme Mahlzeit sein. Nur selbstgekocht ist warm genug. Sie steht in der
Küche. Wie schön ist das Leben, wenn man sitzen kann. Der Bub sitzt immerzu irgendwo. Sie sitzt nur, wenn der Fernseher läuft. Am besten Komödien.
Der Träumer
Er trinkt noch eine Flasche Römerquelle Guarana (das ist seine Sucht). Er kratzt das Etikett herunter. "Die Welt muss neu erfunden werden", denkt er. Die nasse Stadt bei Nacht ist spiegelglatt.
Die Häuser können keine Konturen geben. Nur die Burgruine, um die sich Sagen weben, kann, und auch nur darum kann sie. "Die Welt muss so erfunden werden, dass jedes Haus und jeder Mensch ein
Sagenwerk ist", denkt er.
Früher trank er Eistee, aber mittlerweile ist ihm das zu süß. Irgendwann wird er reines Wasser trinken, aber dazu ist es noch zu früh.
Mein Körper
Mein Körper und ich lieben einander nicht: Wir sind uns gleichgültig. Unsere Beziehung beruht auf einem Nichtangriffspack. Ich strapaziere ihn nicht zu sehr, dafür führt er ohne Protest all meine
Befehle aus. Außerdem übernehme ich die Instandhaltung. Er funktioniert im Gegenzug schon seit dreiundzwanzig Jahren, die meiste Zeit davon sogar tadellos. Vom Design her ist er durchschnittlich,
aber pflegeleicht und wenn schon nicht zeitlos, so doch wenigstens unauffällig. Es hätte sich durchaus eine Freundschaft entwickeln können – wüsste ich nicht mit absoluter Sicherheit, dass er mir
eines Tages in den Rücken – und zu Staub zerfallen wird.
Im Café "Zwickel"
Was war die Aufregung groß, als die Wirtin im Café "Zwickel" einen dunkelhäutigen Gast als "Neger" beschimpfte. Schnell kam der Verdacht auf, die Chefin dieses Traditionslokals wäre eine
Rassistin. Eine einschlägige rechte Partei feierte sie bereits als ihre Bundespräsidentschaftskandidatin. Der Rest der Bevölkerung aber protestierte und wollte das Café "Zwickel" in Zukunft
meiden. In ihrem ersten Interview jedoch lenkte die Wirtin ein: Sie hätte auch einen weißen Gast einen "Neger" genannt, wenn der eine schwarze Hautfarbe gehabt hätte.
Wo man leben soll
Natürlich ist im Norden alles besser, und im Westen auch. Das heißt, am besten ist es im Nordwesten. Der Südosten ist unbedingt zu meiden.
Aber leider ist nicht überliefert, von welchem Punkt der Erde diese Wahrheit ausgeht.
Es gibt den alten Kinderwitz, dass es bei einem Haus am Nordpol nur Südfenster gibt. Umgekehrt ist am Südpol alles andere Norden. Vom Westen und vom Osten kann man das nicht sagen. Es gibt keinen
Westpol, keinen Ostpol, sorry Obama, izvinite Putin.
Die meisten sagen sowieso, zu Hause ist es am schönsten. Aber das gilt nur, wenn das zu Hause in Norwegen liegt.
Ménage-à-trois
Vera nahm mich zu einem Konzert mit. Es fand in einem Keller statt, der irgendwie eine Bar war, aber es gab weder Kellner noch Barkeeper. Es gab auch keine Getränke. Der Mann mit der
Gitarre hieß Tschick - aber ich glaube, das war sein Künstlername. All seine Lieder klangen, als hätten Leonard Cohen und Element of Crime ein Kind bekommen und das hieße Tschick. Vera und ich
waren die einzigen Gäste, instant Ménage-à-trois, so fühlte es sich an. Ich war mir sicher, dass Vera mit ihm schlief. Sie lachte bei den Liedern, bei denen ich weinte, und umgekehrt. Vielleicht
hat Tschick aber den ganzen Abend lang auch nur ein einziges Lied gespielt. So genau hörte man das nicht. Hinterher glaubte ich, in Vera verliebt zu sein, aber ich irrte mich. In Wahrheit hatte
ich nur Hunger.
Zweizeiler
Er hat so große Hände und spielt so schlecht Klavier.
Das sind die Witze, über die Gott lacht.
Schöne Dinge
Da läuft dieser Film, diese Westernparodie, und die Mutter lacht. "Ein schwuler Indianer", sagt sie, "darauf muss man erst einmal kommen!" So spät ist sie sonst nicht mehr auf, nur wenn sie
Magenweh hat oder etwas im Fernsehen läuft. Sie trinkt Pfefferminztee, denn anderen Tee mag sie nicht. Irgendetwas steht immer auf dem Herd. Die Wollsocken hat sie sich selbst gestrickt, die
Wolldecke bei IKEA umsonst bekommen (es war ihr Geburtstag). Es gibt viele so schöne Dinge in ihrem Leben.
Der Wolf
Vera ist Russin, oder jedenfalls spricht sie russisch, oder zumindest kennt sie ein paar russische Sprichworte. Die Arbeit ist kein Wolf, sie läuft nicht in den Wald davon, sagt sie zum Beispiel
oft, und schiebt dann weit von sich, was auch immer sie vor sich hat: ein Buch, eine Staffelei, ein Glas Sekt, einen Menschen. Die Arbeit ist kein Wolf, das heißt in etwa: Morgen ist auch noch
ein Tag. Für Vera ist immer noch ein Tag. Ihre Faulheit ist lasziv. Sie kann sich tagelang irgendwo ausbreiten und liegen bleiben wie ein Teppich. Ich glaube, Vera hält sich für
unsterblich.
Meine Arbeit ist aber ein Wolf, sage ich, sie frisst mich.
Was arbeitest du denn?, fragt die faule, über eine Parkbank gebreitete Vera.
Ich schreibe Bücher, antworte ich.
Ich habe dich noch nie ein Buch schreiben sehen, sagt Vera.
Eben, sage ich, weil sie mich immer fressen, bevor ich sie schreiben kann.
Vera zuckt mit den Schultern, die erste Bewegung seit Stunden. Dann muss ich ihr versprechen, ein Buch über sie zu schreiben, falls es mich nicht vorher frisst.
Lyrik
Der sowjetische Dichter Daniil Charms schrieb einst ein Gedicht namens "Ein Mensch ging aus dem Haus", in dem ein Mensch aus dem Haus ging. Und nachdem dieser Mensch aus dem Haus gegangen war
(des Reimes wegen mit Knüppel und Sack ausgestattet), ging er und ging er. Er ging und ging, trank nicht und aß nicht, ging weiter und weiter, bis er in einem dunklen Wald verschwand und niemals
mehr gesehen ward.
Dieser Kindervers aber entsprach nicht den Tatsachen. Denn, so bemerkte der Zensor klug, im schönen Sowjetland konnten Menschen nicht verschwinden. Und weil im schönen Sowjetland Menschen nicht
verschwinden konnten, musste Daniil Charms schleunigst verschwinden.
Ob er aber auch mit Knüppel und Sack ausgestattet war, ist nicht überliefert.
Der Fan
Meine Großmutter ist eine der wenigen Glücklichen, die ein Konzert der Beatles live erleben durfte. Sie stand ganz hinten. Sie sah nichts, sie hörte nichts und es roch nach Pisse, weil die
Mädchen im Publikum vor Aufregung ihre Blase nicht mehr im Griff hatten. Trotzdem war es der schönste Tag in ihrem Leben, sagt meine Großmutter.
Der zweitschönste Tag in ihrem Leben war der, als sie noch ein ganz kleines Kind war und bei einem Stadtfest Adolf Hitler Blumen überreichen durfte, sagt meine Großmutter. Persönlich
hat sie gar nichts gegen den Hitler, sagt meine Großmutter, ein sehr netter Mann. Dem John Lennon hat sie die Yoko Ono aber nie verziehen. Seine Ehefrau mit so einer windigen Kunsttussi zu
betrügen, das tut man nicht, sagt meine Großmutter. Und Japaner hat sie noch nie gemocht.
Aber dass sie trotz allem den Pissegeruch immer noch als schöner einstuft als den Duft brauner Blumen, das rechne ich ihr hoch an.
Das Model
Wenn es stimmt, was man über das Rauchen sagt, ist meine Lunge schwarz wie Ebenholz. Aber aus inneren Werten habe ich mir noch nie viel gemacht. Das Innere - als ganzes - könnte mir gestohlen
bleiben. Ich versuche es möglichst gering zu halten. Wenn es nach mir ginge, wäre ich nichts als Knochen, Haut und Prada.
Wien
Als ich heute nach der Arbeit nach Hause kam, fand ich in meiner Wohnung einen Touristen vor. Auf den ersten Blick dachte ich: ein Asiate, auf den zweiten Blick: ein Amerikaner, auf den dritten:
Er könnte von überall her sein. Auf den Gedanken, er könnte ein Einbrecher sein, kam ich nicht, denn er hatte (und das bestätigte er mir auch), überhaupt nichts angefasst.
Ich liebe die unberührte Natur!, sagte er. Dann erklärte mir, er hätte Wien abseits des Baedekers erkunden wollen und sei hier gelandet. Sehenswürdigkeiten interessierten ihn nicht, er reiste ja
nicht, um andere Touristen zu erkunden.
Touristen, sagte der Tourist, sie zerstören die schönsten Plätze. Wenn er schon auf Reisen ging, dann suchte er nichts als die Authentizität, die wahre Seele des Landes. Während seiner Rede
war nicht zu überhören, dass er einen Akzent hatte, aber ich konnte ihn nicht einordnen: Einmal klang er hart und ruppig, dann wieder weich und singend, einmal rollte er die "R"s italienisch,
dann wieder gurgelte er sie französisch. Alles in allem war es nicht leicht, ihn zu verstehen.
Er schwärmte sehr über meine Vorhänge (grün, mit Blumenmuster), über die ungewaschene Kaffeetasse mit ihrem Kaffeesud auf dem Tischchen, über den zusammengeklappten Laptop am Schreibtisch, die
Staubschicht auf dem Fensterbrett.
Alles echt?, fragte er. Und diese Äpfel im Obstkorb, die haben Sie auch nicht extra für mich hingestellt?
Natürlich nicht, antwortete ich, ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie kommen.
Nein, sagte er, und schien ganz glückselig darüber. Dann fragte er, ob er ein Foto von mir machen dürfte, denn auch ich verkörpere das wahre Wien fernab aller Folklore, mit meinen abgetragenen
Jeans und dem "Hard Rock Cafe Manchester"-Shirt. Aber er wollte nicht, dass ich posierte, lieber sollte ich mich ganz natürlich verhalten, wie man sich in Wien eben nach dem nach Hause kommen
verhielte. Also ging ich zum Kühlschrank und nahm mir einen Becher Joghurt heraus, denn ich hatte großen Hunger. Der Tourist war ganz überwältigt von dem rosa Joghurtbecher. Er hielt den Moment,
in dem ich die Folie vom Becher zog, mit seiner Kamera fest. Für die Ewigkeit, schwärmte er. Ich fragte, ob er auch etwas wollte, Tee oder Kaffee vielleicht, aber er musste weiter. Das Haus, in
dem ich lebte, hatte fünfundachtzig Wohnungen, und meine wäre es die zweiundzwanzigste. Aber um Wien zu kennen, sagte der Tourist, muss man alle Wohnungen kennen!
Als er gegangen war, saß ich am Sofa und aß und überlegte mir, ob das Löffeln von Erdbeerjoghurt wirklich so wienerisch war. Und ja, doch, ich fühlte mich plötzlich sehr repräsentativ.
Ich wusste nun endlich, wie sich der Stephansdom fühlen musste.Das nächste Mal würde ich aber Eintritt verlangen.
Tempelberg
Ein etwas älteres, sehr christliches und sehr deutsches Paar erfüllte sich zum ersten Mal im Leben einen Traum und reiste nach Israel. Die Sehenswürdigkeiten waren so zahlreich wie die
bewaffneten Soldaten auf den Straßen. Das Klima, wie immer, heiß und nervös. Die Menschen freundlich, aber auch nervös. Am zweiten Tag hatten die beiden bereits zwanzig Metalldetektoren
passiert. Wohin sie auch gingen, schlugen sie sich die Zehen an den verhärteten Fronten.
Als sie den Tempelberg erklommen (Metalldetektor einundzwanzig), waren die Füße in den Schuhen geschwollen und sie trugen nicht einmal mehr Kaugummi-Papier bei sich, vorsichtshalber. Sie
versuchten trotzdem, den Ausblick zu genießen. Schließlich hielt die Dame aber dem unbehaglichen Klima nicht mehr Stand, sie schüttelte resignierend den Kopf und sagte: Nur Jesus kann hier noch
helfen! Und sie glaubte fest daran. Ihr Mann nickte und machte ein paar Fotos.
Oder die Amerikaner, sagte er dann. Und er glaubte auch fest daran.
Theater
Vera hatte, natürlich, schon einen Sinn für Künste, aber ins Theater konnte man mit ihr nicht gehen. Ich versuchte es zwei Mal: zuerst eine Boulevardkomödie mit Verwechslungen und Türenknallen,
beim zweiten Mal dann "Romeo und Julia". Sie kam jedes Mal gut angezogen und etwas zu aufgeregt. Die große Eingangshalle imponierte ihr schon so, dass sie nur Blödsinn quatschte. Im ersten Stück
dann amüsierte sie sich halbwegs, aber nur über das furchtbar Dumme: über stolpernde Diener und kreischende Damen. Es war ein Trauerspiel, meine große weltumfassende Vera vor einer Bühne so klein
werden zu sehen. Ihr war nicht einmal bekannt, dass man zum Schluss zu klatschen hatte.Aber trotzdem wollte sie unbedingt wieder. Ich meinte, ihr Feinsinn wäre wohl für das Tragische
empfindsamer, und kaufte zwei Karten für "Romeo und Julia". Nach drei Minuten begann sie schon zu gähnen, dann räkelte sie sich in ihrem Sessel hin und her, als würde sie keine bequeme Haltung
finden können und als wäre das weit tragischer als die größte Liebesgeschichte der Menschheit. In der Pause behauptete sie, die Aufführung gefiele ihr gut, sie verstehe nur nicht ganz, warum die
Leute alle so modern gekleidet wären und doch so unverständlich altmodisch sprächen. In der zweiten Hälfte dann versank sie ganz in sich. Das Smartphone beleuchtete ihr Gesicht matt-bläulich, was
ihren Zügen das geheimnisvoll Schöne nahm: Das farbenfrohe Veragesicht wurde zur graublauen Steppe, ihre Züge waren gleichmäßig und plötzlich langweilte ich mich, wenn ich sie ansah. Und während
Julia mit dem Dolch an der Brust ihren Monolog zum Sterben hielt, weinte ich: Der wahre Kern der Kunst war die Banalität eines Mobiltelefons, eines Gähnens, einer gesichtslosen Vera. Julia starb
zu meinem Beschluss, dass ich Vera nicht mehr sehen wollte, da sie meine Welt zur Illusion gemacht hatte, zu einem frommen Künstlertraum.
Nur hielt ich mich nicht daran. Als wir das Theater verlassen hatten und im Schneeregen zur U-Bahnstation gingen, als Vera wieder etwas seltsames, selbstgefälliges und Wahres sagte, als wir mit
dem Lift in die Erde hineinfuhren, in Veras unterirdischen Lebensraum, und als das Licht flackerte - da war sie wieder zur wirklichen Erdvera geworden. Ich hätte Lust gehabt, sie zu malen, und
darum ging ich nicht fort. Beinahe war es, als wären wir nie im Theater gewesen, was ich nun sehr wünschte. Denn so bleib die traurige Gewissheit, dass Vera zu einer faden blaue Fläche wurde,
wenn man sie mit einer Bühne verglich.
Todesarten
Isadora Duncan, Tänzerin und schick bis in den Tod, wollte in Nizza spazieren fahren. Sie stieg also in den offenen Sportwagen, um den Hals wie immer der Seidenschal, blutrot natürlich, wie
sonst. Und wie immer machte das Auto beim Anfahren einen Ruck, aber nicht wie immer brach der Schönen das Genick: Ein Schalzipfel hatte sich in den Radspeichen des Wagens verfangen. Es war
übrigens ein Amilcar und kein Bugatti. Wie banal.
Und in einem Hotelzimmer schrieb ihr Ehemann Sergej Jessenin sein letztes Gedicht mit Blut, da er keinen Füller finden konnte und das Personal nicht wecken wollte. Unverschämt genug war er dann
aber doch, den Zimmermädchen seine Leiche zu hinterlassen: erhängt mit aufgeritzten Pulsadern, gehört sich das denn.
Aber Sterben ist bekanntlich nie besonders höflich. Und immer banal.
Schönheit
Ich hatte einmal eine Lehrerin, die sagte immer: Schönheit ist vergänglich!, weil ihre schon vergangen war. Und wenn die Mädchen geschminkt in die Schule kamen und die Jungs mit Gel im Haar,
schüttelte sie nur den Kopf und sagte: Schönheit ist ja so vergänglich, aber der Charakter bleibt! Wir schminkten und gelten uns trotzdem, hielten sie aber irgendwie für weise. Viele Jahre später
kam sie in ein Altersheim, weil sie ihre Nachbarn mit Scheiße bewarf.
Vera trinkt Sekt
Ständig wird mir gesagt, dass ich eine sehr attraktive Frau sei, und darum neige ich dazu, es zu glauben. Aber andererseits... (Vera nippt an ihrem Sektglas) ... aber andererseits hat sich noch
nie ein Mann für mich erschossen. Also außer ... (Vera nippt wieder) ... außer Janos, aber der zählt nicht. Der hätte sich für wirklich jede umgebracht.
Die Krankheit
Ich bin ein stiller Hypochonder. So still, dass es niemand merkt. Aber wenn ich morgens die Augen aufschlage, weiß ich, dass ich sterben werde. Und nicht irgendwann und irgendwie. Das Kratzen in
meinem Hals ist das Scharen des Todes. Mein Körper hat mich aufgegeben. Ich trauere kurze Zeit um mein Leben, dann stehe ich auf. Ich gehe ins Badezimmer und wasche mein Gesicht. Nivea ist meine
letzte Ölung. Ich ziehe mir Kleider an, irgendwelche, nichts feierliches, so sehr habe ich mich mit meinem Sterben abgefunden. Ich kämme mich lange. Mein Haar ist das erste an mir, das schon
gestorben ist. Zum Frühstück esse ich, was ich am Vortag gekauft habe, obwohl es mir schon da nicht gut ging. Es ist ein großer Zufall (Glück möchte ich nicht sagen), dass ich lange genug gelebt
habe, um dieses Frühstück zu mir zu nehmen. Mittlerweile habe ich schon ein oder zwei Mal geniest. Dann schleppe ich mich zur Arbeit, wenn ich gerade eine habe, oder tue sonst etwas, das gerade
anfällt. Notwendig ist nichts mehr. Wenn die Leute in der Straßenbahn mir nicht sagen, dass ich sehr schlecht aussehe, so ist es reine Höflichkeit. Zum Arzt gehe ich nicht, weil er mir auch nicht
mehr helfen kann. Auch spreche ich mit niemandem darüber, weil ich die guten Ratschläge nicht ertragen könnte. Keiner will wahrhaben, dass mein Körper mir langsam seine Dienste versagt, weil das
heißen würde, dass auch der eigene Körper einmal seine Dienste versagen könnte. "Trinkst du auch viel Tee und isst viel Obst und machst Sport... ", weil sie in Wahrheit glauben, unsterblich zu
sein, weil sie viel Tee trinken und viel Obst essen und Sport machen. Ich versuche besser nicht aufzufallen. Meine Arbeit, oder was sonst gerade anfällt, mache ich besonders gut und sorgfältig,
sodass niemand Anlass zur Beschwerde hat. Soweit ist es gekommen: Meine Sterben ist mir peinlich. Derweil spüre ich jeden Herzschlag so deutlich, als wäre es mein letzter.
Wenn ich abends nach Hause gehe, mache ich doch noch etwas widerwillig einen Bogen zum Nahversorger und kaufe Milch und Brot für den nächsten Morgen, der für mich nie anbrechen wird. Soll der
Arzt, der niemandem helfen kann, soll der Leichenbestatter noch eine gute Jause haben, denke ich beinahe heiter. Dann liege ich vor dem Fernseher, es läuft "How I met your mother" (ich werde
niemandes Mutter mehr kennenlernen). Aber ich habe weder Angst noch bin ich sonderlich traurig, sondern eher neugierig. Neugierig, welches Organ wohl als erstes versagt: Wird es ein Hirnschlag
sein? Ein Herzinfarkt? Werden die Nieren anschwellen oder die Lunge explodieren? Alles fühlt sich schlecht an. Wenn mich die Müdigkeit übermannt (ein weiteres Anzeichen meines Ablebens), kann ich
noch mit letzten Kräften ins Bad schlurfen, Zähne putzen, manchmal noch duschen, Pyjama anziehen, alles strengt mich an. Dann lege ich mich unter die Schwere meiner Bettdecke und fühle mich
erdrückt. Ich schließe meine Augen. Nur eine Sekunde lang, kurz bevor ich einschlafe, denke ich noch: Ach, ich bin doch ein furchtbarer Hypochonder. Aber wenn ich am nächsten Morgen aufwache, ist
mein Mund wieder trocken und der Tod schabt in meinem Hals. So sind alle Tage letzte.
Vera
Erst dachte ich, sie hätte gesagt, dass sie Model sei. Und ehrlich gesagt, es wunderte mich. Nicht weil Vera hässlich gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Groß und breit und unzerbrechlich lernte ich
sie kennen (und, wie passend, in der U-Bahn. Unsere Freundschaft begann unterirdisch.) Ihr Pullover war grobmaschig, raue Lederstiefel, laute Stimme. Unter einer Baskenmütze schwarzes, krauses,
ich nenne es: afrikanisches Haar, Katzenaugen in dunkelgrün, ihre Haut nenne ich nordeuropäisch, schneeig, aber in der Kälte immer gerötet. Die linke Wange war eine trockene Wüste, die
rechte ein saftiger Hügel. Die Oberlippe ein schmaler Trampelpfad, die untere mehrspurig, eine Autobahn. Über ihre Stirn zogen sich Falten wie durch Ackerland. Kurz: Vera sah aus wie die Erde,
eine ganze Welt für sich. Eine, die nicht in die Fashionwelt passte.
Irgendwann erfuhr ich, dass ich mich verhört hatte. Tatsächlich hatte sie damals "Modell" gesagt. Sie war Malermodell. Sie stand tagsüber in den Ateliers von Künstlern, nackt oder im historischen
Kostüm oder auch im Grobmaschenpullover, und wurde gemalt. Sie verdiente nicht viel, aber genug, um zu essen und nachts U-Bahn zu fahren.
Tut man das denn noch, fragte ich sie, malen die Künstler denn wirklich noch Figuren der aus Wirklichkeit ab, so detailgetreu und haargenau, dass sie sie dabei vor Augen haben müssen? Wären sie
dann denn nicht mit einem Fotoapparat besser beraten? Vera lachte.
Natürlich nicht, sagte sie, meine Maler malen abstrakt, und manche malen gar nicht, sondern hauen die Leinwand kurz und klein, einfach so.
Und doch brauchen sie dich als Modell?
Gerade deswegen.
Ich lernte, dass Vera das Stück Wirklichkeit war in der Kunst, die Klarheit im Farbenwirrwar, die Erde in den geometrischen Linien, die Welt im schwarzen Quadrat, das Greifbare im Konzept.
Nachdem ich Vera kennen gelernt hatte, lernte ich niemanden mehr kennen. Es war nicht mehr notwendig.
U-Bahngespräch.
Es ist eine verdammte Frechheit und pietätslos noch dazu, dass sie diese Plakate nicht abgenommen haben. Dass da immer noch in jedem U-Bahnhof diese Plakate hängen. Diese Plakate mit dieser
Werbung. Diese Werbung mit diesem Model. Dabei wissen doch alle, es war doch in allen Zeitungen, es ist doch allgemein bekannt. Dass dieses Model bei dieser Fashionshow in Mailand über die
eigenen Füße stolperte und in Folge dessen in tausend Teile zersprang. Die Bilder gingen doch um die Welt, bitteschön. Victoria Beckham, die in der ersten Reihe saß, wurde zum Beispiel von den
Splittern des linken Oberschenkels getroffen. Aber sie kam mit einem Schrecken davon, Gott sei Dank. Einen Tag später erklärte sie in einer britischen Talk-Show, der Zwischenfall sei „tatsächlich
sehr erschreckend“ gewesen. Aber auch auf die anderen Gäste der Fashionshow rieselte die bedauernswerte junge Dame, die gerade noch ein gefeiertes Nachwuchsmodel war. Der ganze Laufsteg war voll
mit den Splittern ihrer Gedärme, und man fürchtete kurz, eine Massenpanik könnte ausbrechen. Aber zum Glück reagierte eine Kollegin, ebenfalls gefeiertes Nachwuchsmodel, blitzschnell. Sie nahm
das Armani Kleid vom Haufen der Körpersplitter und warf es sich über, und auch die anderen geplanten Auftritte der Zerbröselten übernahm sie gekonnt, sodass die Fashionshow ganz normal
weiterlaufen konnte und alles doch noch ein glückliches Ende nahm. Aber trotzdem sollte man neue Plakate machen. Es ist geschmacklos. Niemand will ständig ein Gesicht vor Augen haben, von dem man
weiß, dass es in Wahrheit bereits in seine Einzelteile zerfallen ist.
Neujahrskonzert (in Moll)
Ein neues Jahr beginnt, und der Österreicher blickt (laut Umfrage) pessimistisch in die Zukunft.
Der Österreicher blickt aber auch pessimistisch in die Vergangenheit. Überhaupt blickt er ganz pessimistisch drein.
Und aus dem Blei, das er sich im letzten Jahr dann doch nicht in den Kopf geschossen hat, gießt er sich in der Silvesternacht Fabelfiguren, und sie alle sehen aus wie Karl Kraus. Aber man
bedenke. Manchmal sind Grantfalten Freiräume. Es ist immerhin auch eine kulturelle Errungenschaft, sich in der Straßenbahn nicht anlächeln zu müssen.