annoncen, #2
ich bin verschwunden an diesem abend und bald ins bett gegangen, schließlich war am nächsten tag frühschicht angesagt. die verfluchte kellnerei. aber ein job ist ein job ist ein job. und bringt
geld. kellnern auch recht viel trinkgeld, wenn ich es nur schaffe, selbst zu den ekelhaftesten kunden freundlich zu sein. lieb lächeln fällt dir leichter, wenn du die euros im hinterkopf
behältst, die du dafür kriegen kannst … vielleicht auch bald wieder die schillinge oder gar kronen, vorwärts in die vergangenheit, wer weiß? an einem sommerabend spricht tina wieder mit mir. wir
sitzen abends in der küche und essen kartoffelpuffer, trotz offenem fenster steht die luft. ich möchte eine betreuung für meine diplomarbeit und tina endlich einen job. auf der wackligen
holzplatte des küchentisches liegen drei tageszeitungen: die usa haben ihr triple-a-rating verloren, in griechenland wird protestiert und die arbeitslosigkeit in österreich ist stabil geblieben
(noch, denke ich). zuoberst der teil mit den rot markierten stellenangeboten. escort-service? tina, was denkst du dir? // naja, da begleitest du halt eben typen, die gerade keine frau haben,
zu irgendwelchen anlässen … // und danach begleitest du sie noch sonstwohin … // glaub ich nicht, und wenn, dann kannst du es dir aussuchen! außerdem ist es gut bezahlt … // sicher noch besser,
wenn du dich an die ungeschriebenen konditionen hältst! // hör auf, du bist gemein! ein versuch, zu deeskalieren: ich schiebe die zeitung weg und streiche eine haarsträhne aus tinas gesicht.
versuche, nicht daran zu denken, dass vielleicht niemand meine diplomarbeit betreuen kann bis zum nächsten semester, weil die ganze universität überlastet ist. nicht an den aktuellen krach im
elternhaus und nicht daran, dass marlene schwanger ist, obwohl sie ihren freund erst seit einem halben jahr hat und ihre stelle erst seit drei monaten. nicht an tina, die eine erträgliche arbeit
und selbst verdientes geld braucht. und einen mann vom typus großer, starker bär, sagt sie immer, mit breiten schultern zum anlehnen. aber da ist nur das große, kalte sternbild am
himmel, das durch unser küchenfenster hereinblickt. mir kommt vor, es würde über uns spotten. aber sterne kennen keine gefühle, nicht einmal schadenfreude.
im herbst war tina zum ersten mal beim arbeitsamt. daraufhin hat sie einen kurs besucht, sie besitzt nun den computer-führerschein. ein kfz-führerschein wäre ihr lieber gewesen. in folge hat sie
sich noch einmal in den bewerbungsprozess begeben. ein paar dutzend absagen, eine zusage. ich stehe in der küche und räume den kühlschrank ein. im winter sind obst und gemüse selten frisch und
nie billig. mein lohn ist heuer nicht gestiegen, die inflation schon. sparpakete in griechenland und irland, für mich buttertoast und kaffee zum frühstück. heute steht diplomarbeit auf dem
programm und in versalien in meinem taschenkalender. ein dokument mit unterüberschriften: 1.1. Zur sozialen Situation von Frauen in der Zwischenkriegszeit. 1.1.1. Zur generellen Lage am
Arbeitsmarkt. 1.1.2. „Frauenarbeit“ und Erwerbslosigkeit. tina kommt oft spät nach hause, manchmal, so wie heute, erst am vormittag. als erstes steigt sie für gewöhnlich unter die dusche und
macht sich zurecht. über die herren erzählt sie wenig. erst einmal sei ihr eine dame untergekommen. manchmal erwähnt sie ein detail, sagt, gestern habe sie eine quasselstrippe erwischt oder einen
vierfachen familienvater. wirklich brutal ist noch keiner gewesen. // und unwirklich? // geht dich nichts an … oft sind es ältere semester aus besseren häusern, zu denen sie geschickt
wird wie ein paket. männer, die ganz locker einen hunderter in dem restaurant lassen, wo ich serviere und einen pro woche bei der babysitterin, damit sie dort oder anderswo ungestört dinieren
können. einen auf dem schreibtisch ihres psychologen und einen auf dem nachttisch eines gürtel-etablissements, das sie aufsuchen, wenn sie weder zu abend essen noch die nummer von tinas
vorgesetztem wählen wollen. tina zündet sich eine zigarette an und schlürft aus ihrer dampfenden espresso-tasse. sie legt siebzig euro auf den tisch für zwei monate elektrisches licht und warmes
wasser.
annoncen, #1
ich klopfe an tinas zimmertür und bekomme einlass gewährt. tina ist meine mitbewohnerin und zwei jahre älter als ich. trotzdem werde ständig ich für die ältere gehalten. ich frage sie, ob sie
einen kaffee mit mir trinkt, es ist schon einer aufgesetzt. sie nickt. auf die frage, was sie heute gemacht habe, meint sie, sie habe die blumen gegossen und zwei ausgeleierte bhs eine nummer
enger genäht. (wie gestern, denke ich, nur dass sie gestern die küche gesaugt und die zeitung gelesen hat. gegessen und geschlafen vermutlich auch.) sie zündet ein räucherstäbchen an und schaltet
das radio ein. subway to sally. dann werbung. mir gefallen die beiden poster in tinas zimmer und die violett-orangen sitzkissen. auf dem kaffeetisch melden die schlagzeilen erwartete
erholung in der konjunktur und verwicklung weiterer hochrangiger politiker in bestechungsaffären. daneben liegen prospekte mit eingekringelten sonderangeboten, ein stoß mit trägerleiberln und
einer mit bhs. meine hände spielen mit einem hellroten teil aus spitze. du, tina – was in aller welt machen die vielen tabletten zwischen den wäschestapeln? // was zum teufel geht es dich an,
ob ich meine medikamente bei der wäsche oder in der hausapotheke aufbewahre? // du weißt genau, was ich meine … // und du solltest wissen, dass dich mein leben einen scheißdreck angeht! // tina,
bitte … wozu checkst du dir so ein elendes surrogat? frühjahrsmüdigkeit? oder ist dein hanfhändler mal wieder nicht ans telefon gegangen? // zum rauchen hab ich genug … // ach ja, aber die
fünfunddreißig euro hast du mir letztens nicht geben können für die stromrechnung? gesagt ist gesagt und lässt sich nicht mehr zurücknehmen … sie blickt mich an und sucht nach dingen, die
sie mir vorhalten könnte, kürzlichen vollräuschen, drogenaktionen oder verspäteten zahlungen. sie findet nichts. wir waren schon länger nicht mehr miteinander fort und die rechnungen behalte ich
im überblick. die zwickmühle: mich entschuldigen, obwohl ich sie schon dreimal erinnert habe und die roten zahlen auf meinem konto endlich schwarz sehen will? oder einfach in mein zimmer
verschwinden und ignorieren, dass es ihr nicht gerade blendend gehen dürfte?
wollblumen
wollblumen –
weich gedrängt,
meine zarten kopfgeburten
stahlwollgestrüpp –
verhärtete traumwollkinder,
wandert ihr im kopf hin und her
wollspinnenfäden
dazwischen
wie wollfadenspindeln
superman in strumpfhosen, #4
montag morgen. er wird in die arbeit gehen, den bonsai aus dem topf ziehen, den erdigen wurzelboden in großmanns zen-garten stellen. aktenstapel durcheinanderwerfen, das papier
reißen lassen wie von selbst: in ganz kleine stücke, es wird zu boden rieseln als wäre es neuschnee, fast lautlos. sein gesicht kopieren, in DIN-A-3-format, schwarzweiß. auf die kopie schreiben:
„ich trete in streik. mit vorzüglichster hochachtung, paul neumeier.“ zu melanie fahren, die kaum mehr zeit für ihn hat und ihm nicht verrät, ob wegen der überstunden oder wegen eines liebhabers.
die valentinstagsrose vom vorjahr rupfen. die liebesromane, die sie ständig liest und mit denen er nichts anfangen kann, aus dem fenster werfen. den schlüssel hinterher. sie wird nicht zu hause
sein und er wird die nummer des schlüsseldienstes wählen: „guten abend, könnten sie mich bitte hier rausholen? favoritenstraße 30, tür nummer 6.“
superman in strumpfhosen, #3
er trinkt seinen kaffeetasse leer. blinzelt. das schärft die sinne. in der waschküche läuft das radio: 88.6 oder Ö3, mit rauschen. die falten an der nasenwurzel der mutter, das
haar im ohr des vaters, der pickel im gesicht der schwester, kaum wahrnehmbar unter der dicken make-up-schicht. das porzellan: abgeschlagene stellen, metallspuren von löffeln und messern. die
streusel auf dem kuchen. die öllandschaft über den köpfen. der herrgottswinkel mit den palmzweigen. die tannen verwandlen sich in gesteinsbrocken und die weiher in mondmeere. der herrgottswinkel:
ein abstraktes ding aus holz, ein drache, ein wolkenkratzer? und er ist der held seiner kindheit – superman mit rotem umhang und blauen strumpfhosen. er muss den schönen schein zerstören. kurz
und klein schlagen. angefangen beim lilienporzellan. er nimmt die zuckerdose. der sprung von früher öffnet sich in seinen händen, aus einer dose werden zwei hälften. zucker rieselt auf den kuchen
und auf die tischplatte. seine tasse fliegt gegen die wand. scherben prallen ab und fallen zu boden, bleiben liegen. er springt auf, reißt das kleine ölgemälde von seinem platz über der eckbank
und steckt es in die mikrowelle. es brutzelt. die mutter wird die mikrowelle putzen müssen. die hässliche kredenz: er schüttelt sie – mit einem ruck sind die türen offen, mit einer handbewegung
die teller auf den boden gefegt. sie brechen, die teller – kein hausarrest, kein herrgott, kein aufessen-müssen, keine fragen.
superman in strumpfhosen, #2
filterkaffee wird in lilienporzellan gegossen. wer will, greift zum milchkännchen oder zur zuckerdose, die einen sprung hat, der mit loctite geklebt wurde und ihm damals, vor gut
zehn jahren, hausarrest eingetragen hat. der vater fragt, wann er gedenke, melanie zu heiraten, ob herr heisemann noch immer so zufrieden mit ihm sei und ob er bald die gehaltserhöhung bekommen
werde, wie auch sonst an jedem dieser sonntage. er akzeptiert, was ihm vorgesetzt wird: das naturschnitzel, den filterkaffee, die fragerei – er musste auch den neuen chef akzeptieren, den ihm
walter & co kg. vorgesetzt hat, nachdem herr heisemann im burn-out verschwunden und nicht mehr aufgetaucht war. an seine stelle ist ein herr großmann in die firma gekommen, der weder von
sieb- noch von offsetdruck etwas versteht, aber groß das maul aufreißt. im gegensatz zu herrn heisemann (seinem ersten konjunktivchef) ein reiner imperativchef. am freitag hat ihm großmann
erklärt, warum eine gehaltserhöhung angesichts der wirtschaftlichen lage …
superman in strumpfhosen, #1
sonntag nachmittag. familienversammlung rund um den kaffeetisch. die mutter schneidet den kuchen auf, der vater zieht die augenbrauen hoch und wird gleich fragen, warum er vom
billa ist und nicht selbst gebacken. unter den fingernägeln der kleinen schwester hat sich dreck angesammelt. der dreck bleibt zwar hinter horn und lack versteckt, die schwester befördert ihn
trotzdem mit den nägeln der jeweils anderen hand ans tageslicht. die mutter wirft ihr einen strafenden blick zu und denkt, dass sie die schlechten sitten vom vater geerbt haben
muss.
china
broken china on the ceiling
and i’ve been
to elephant & castle
upside down
and the echo
of your eastern kisses
of your words
not meant to spell them
upside down
from elephant & castle
from wherever i’ve been
from the china on my ceiling
broken kisses in the bathroom
and i’ve been
to the cliffs of brighton
summertime
and the clocks
save some daylight
save your words
not meant to spell them
steal the time
from the cliffs of brighton
from wherever you’ve been
from the kisses in the bathroom
pattern drills
and i love you
love you too
pattern drills with no commitment
at the check-out
there’s no invoice
at the bus stop
there’s no ticket
in my mobile
there’s no credit
in the kitchen
there’s no coffee
and i can’t talk
can’t talk either
about the wish to turn the pages
ende gleich anfang, #4
zwei durch zwei // so zog melanie noch am selben tag zu ihrer mutter. nur vorübergehend, bis sie eine wohnung für sich allein fände oder zumindest ein zimmer in einer akzeptablen
wohngemeinschaft. zwei wochen später das erste treffen, um die wichtigsten dinge zu regeln, um gemeinsames und hausrat auseinanderzudividieren, um alles, was vom anderen noch da war in einem,
abzustoßen. doch was bedeuteten schon der tisch oder das gewürzregal gegen die einsamkeit, die sie erwartete? auf dem weg zu ihm blieb sie stehen, in gedanklicher zwiesprache mit ihm, der er sich
abputzte von ihr wie von einem staubfilm, einer anschuldigung, einer nicht verrichteten arbeit …
dann die begegnung, die frage nach dem verbleiben, nach dem ob und wie herzlich sich noch grüßen. sie wurde nicht gestellt, sondern nur die, wer die mikrowelle nimmt und zu welchen anteilen die
miete bezahlt wird. die schnur an dem kleinen klong klong namens herz wird sich während des gesprächs verheddert haben, deshalb schlug es grad eben so seltsam unruhig und unrund. das gespräch war
kurz. um nicht allein sein zu müssen, schaltete sie sich für den heimweg stimmen hinzu aus dem radio, die mit ihr sprachen, unter anderem nur für sie hier waren. ihre füße und die friedensbrücke
trugen sie über den donaukanal. es begann plötzlich zu schneien, sie nahm den notizblock in die frierenden finger und schrieb auf die letzte leere seite: fisch ohne fahrrad, haus ohne
hüter.
ende gleich anfang, #3
zwei minus eins // die falle ist zugeschnappt, ohne dass die beiden es gemerkt hätten. vielleicht waren sie gerade beim fernsehen, an einem dienstag im september um 20.15 mit
chips und cola. plötzlich prinzessin, herr der ringe, lost highway oder schlaflos in seattle. oder es war montags, beim diskutieren über unbezahlte rechnungen. über das
eigenheim, das sie haben wollten, in der zukunft, irgendwann einmal. oder freitag nachmittags, als sie gerade von der tagschicht heimgekommen war und ihr versuch ihn zu verführen mehr oder
weniger geglückt. und die falltür machte zack, während sie gerade mitten bei der sache waren. nur war keines der beiden sich selbst genug, ein umfeld außer einander kaum vorhanden und schon seit
geraumer zeit vernachlässigt worden. ihre kolleginnen in der apotheke interessierten sie so wenig wie ihn die seinen aus dem büro. ein abend zu zweit eine allseits akzeptierte ausrede. die
schotten also schon dicht. ein ausbrechen schwierig. ihre älteste freundin hatte ihr einmal gesagt, der verlassene teil muss manchmal dem anderen dankbar dafür sein, den mut aufgebracht zu haben.
aber: mut wird gerne auf später verschoben.
später lag diese zeichnung auf seinem schreibtisch und die frage in der luft: du, sebastian, was hast du da gezeichnet? einen rosa ballettschuh und einen bergstiefel. und was heißt das, ich
meine, willst du jetzt ballettstunden nehmen oder hast du an unseren letzen sommer in den bergen gedacht? nein, das sind schuhe, aber nicht zwei paar schuhe, sondern ein paar, aber das paar
passt nicht zusammen … sie wollte weinen, ihn ohrfeigen, aber da zog so etwas verschrecktes durch seinen blick, das sich eben nun mal ausdrücken wollte, und das verschreckte war es wohl auch, das
dieses ungleiche paar schuhe fabriziert hatte. sie wollte nun doch nicht mehr streiten – also versöhnung vor dem streit, welche strategie nun diesmal, fragte sie sich. ohne zu wissen, was sie
sagen wollten, öffneten sich ihre lippen: sebastian, es sind doch beide gleich groß und links beide – so wie wir – und zwei linke hände haben wir auch alle beide und recht ähnliche dinge und
sachen auch sonst, oder? schweigen staute sich im raum und der berg-, der ballettschuh fing an zu weinen. sie verschwand ins badezimmer, kehrte zurück, das gesicht geputzt und eine
blumenwolke um sich tragend wie einen schutzmantel, der aber nicht ganz dicht hielt, schon löcher hatte wie ihr alter dufflecoat und der wetterfleck ihrer kindheit, nun gossen die tränen ihren
gefleckten blumenmantel – er stand da und sagte nichts und sie hasste ihn dafür, dass er sich gefasst eine zigarette ansteckte, während sie ihn fassungslos anstarrte, dafür, dass er ihr diesen
kühlen blick entgegenwarf – das gefühl, dass etwas kaputtgegangen war, und das nicht erst seitdem sie das bild gesehen hatte, begleitete sie durch die schlaflose nacht. beim aufstehen war es klar
und gegessen für sie wie die semmeln zum frühstück und der gemüsereis zu mittag. flucht nach vorn: du hast recht, sagte sie, wir sind zwei paar schuhe – und die sollten in zwei
verschiedene richtungen gehen.
ende gleich anfang, #2
zwei mal eins // innerhalb von wochen wurde aus zwei menschen ein paar. es war schön, nicht mehr alleine schlafen zu müssen, immer eine begleitung fürs kino an der seite zu
wissen, am samstag gemeinsam zum naschmarkt zu bummeln und dann abends zu kochen, sonntag morgens laufen zu gehen und dann gemeinsam beim frühstück die zeitung zu lesen. ihn gelegentlich um fünf
vor der tür des bürogebäudes zu überraschen und ihn in sein lieblingscafé zu locken. manchmal hatte ihr ausgehen kein ziel: auf schusters rappen unterwegs in wien, am liebsten flanierten sie
durch den ersten bezirk und einmal sagte sie zu ihm: weißt du, dass die farbe der grünspandächer die lieblingsfarbe meiner kindheit war? sie dachte dabei an die drei buntstifte, die sie
sich einmal bei libro aussuchen hatte dürfen: die waren zartgrün wie diese in die jahre gekommenen kupferplatten, türkis wie die schwänze von meerjungfrauen und kobaltblau wie der
abendhimmel, wenn die hand ganz zart mit dem ungespitzten buntstift über das papier fuhr … alle paar wochen hatte sie einen neuen block gebraucht, weil der alte zwar schlösser mit
grünspandächern, aber keine freie seite mehr beherbergt hatte. in manchen der schlösser hatten prinzessinnen gewohnt, in anderen meerjungfrauen. himmel und meer waren kobaltblau, die
bleistiftgesichter noch etwas störend, bis sie den hautfarbenen buntstift auch bekommen hatte, später noch den rosaroten für die lippen. irgendwann hatte melanie genug gehabt von meerjungfrauen
mit fischschwänzen und gegen prinzessinnen hatte sie richtige aggressionen entwickelt. da war auch die erste barbiepuppe stranguliert worden, das war wohl zur der zeit, wo der erste anflug von
weltschmerz sich in wut gewandelt hatte – die massakrierte barbie hatte dann jahrelang am türrahmen zu hängen, war zum symbol ihrer rebellion geworden wie offene schnürsenkel und grüner
lippenstift.
manchmal erzählte auch er ihr eine seiner geschichten. einmal gingen sie den donaukanal entlang, vom flex bis zum kronenzeitungsgebäude, und er begann von seiner familie zu sprechen. vom
vater beziehungsweise von dessen abwesenheit. von der mutter, die eigentlich immer zu hause war. von der roten wollmütze, die sie ihm einmal vom großeinkauf im konsum mitgebracht hatte
und mit ihr das gefühl, durch den novembernebel leuchten zu können. außer mit geschlossenen augen, da hatte er gedacht, er wäre unsichtbar. von den fünf kugeln eis, die er als sieben- oder
achtjähriger zum schulschluss verputzt hatte, den langen sommernachmittagen im schwimmbad. es wurde auch in diesem jahr sommer, die tage wurden heißer, die spaziergänge weniger. und so spontan,
wie sie sich manchmal noch nach der arbeit auf einen eiskaffee zwischen seinem büro und ihrer apotheke trafen, zog sie auch bei ihm ein. eigene vier wände, die häusliche idylle der
zweisamkeit.
ende gleich anfang, #1
eins plus eins // an diesem kalten märzabend den gehsteig und den bahnsteig abgetreten, sich auf den heimweg zu ihm begeben mit lauter herztrommel, dem kleinen klong klong, ein
rasseln und prasseln wie um ein kind zu erwecken. so redete sie mit dem herz in ihrer brust, redete ihm zu wie eine mutter dem kleinen, wie in filmen männer ihren frauen mit dem kindblick –
feuchte hände hielten den riemen der tragtasche und das mobiltelefon, das nicht klingen wollte – es zog sich eine auf- und erregungslinie durch ihren körper, vom scheitel ins hirn, das
prasselherz, den schoß, von den weichen knien bis hinunter zu den zehen, den kleinen, den großen und denen dazwischen. sie zählte mit leiser stimme die schritte zu seiner haustür, überlegte, was
sie sagen würde, wenn er dann den hörer der gegensprechanlage abnimmt. hallo? ich bin’s? bist du da? mach auf, ich hab uns eine flasche wein mitgebracht? was trieb diese schüchternheit
in ihre hände, die anfingen zu zittern? oder lag das zittern am mützen- und wollstrumpfwetter, welches ihr vielleicht den letzten schnee bis zum nächsten dezember bescherte? sie zog handschuhe
an.
57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, sie kramte ein taschentuch aus ihrer tasche und schnäuzte sich, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, in ihrer manteltasche vibrierte etwas, aber es war nur eine mitteilung,
dass ihre arbeitskollegin den frühdienst am montag übernehmen würde, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, sie war schon fünf minuten zu spät, aber das war ihm sicher egal oder sogar recht so, 79, 80,
81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, sie beugte sich kurz über den rückspiegel eines geparkten autos – die schminke war noch nicht verronnen, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, bei 100 war
sie an seiner tür angelangt. ein klingeln, ein hallo, ein hallo, ich mach gleich auf, und da stand sie vor ihm im flur mit roten wangen, herzklopfen und stiefeln, von denen der
schnee langsam schmolz. anfangs je eine armlänge abstand gehalten, er im warten darauf, dass sie sich aus der winterhülle wickelte, dann konnte er ihr mantel und schneeschuhe abnehmen, sie zur
heizung stellen, auf dass sie später trocken wären. nun sich beide langsam nahe gekommen, dem atemfluss des du gelauscht, fußspitzen angetippt, sich bedeckt mit handflächen und armen, sich
zungenküssend aneinander gezogen. der wein blieb unberührt auf der kredenz stehen. sie verließ seine wohnung erst am übernächsten morgen.
um.bruch
zeit bezeugt
gezeugt
zugegen gewesen
umgeblättert.
druckwerk
blüten lese
buch staben
tote stängel
stehen
kerzen gerade
schlingen
hängen rund
runter
kreise rollen
auf und davon
schwarz
auf
weiß
mundraub
brock blumen
rupf gärten
wirf die lese
in die presse
trocken
geronnenes
aus
geblutete
fasern
lass lesen!
quartett #4
ein viertel
die straßenbahn leert sich von friedhofstor zu friedhofstor, die beiden frauen neben katharina, die mutter und tochter sein könnten und je einen blumenstrauß in der hand haben, steigen beim
letzten aus. auf dem vereinzelten platz, dessen drei hölzerne nachbarsitze nun leer geworden sind, bleibt sie sitzen. sie muss zur endstation. dort wird sie einen verlängerten trinken, wieder
alleine, an einem tisch, den vier stühle umgeben – auf einem davon wird sie platz nehmen, drei viertel der plätze werden leer sein und es auch bleiben. sie wird in ruhe rauchen, zwei würfel
zucker in die tasse geben und vielleicht die zeitung lesen. der kellner kennt sie und hat sich das fragen bereits abgewöhnt. er versucht nicht mehr zu ergründen, wie sie heißt, warum sie jeden
donnerstag nachmittag alleine in das kaffeehaus am äußersten rande der stadt kommt, woran sie denkt, ob sie einen freund hat und wie alt sie ist. katharina gibt keine antworten. in ihrem kopf
beginnt ein gitarrensolo zu spielen.
quartett #3
a moll
ulrich lächelt weder hinüber zu lena noch zu sophia, er ist versunken im violinkonzert, das aus seinem mp3-player ertönt und in der erinnerung an letzte nacht, die ihm genauso irreal erscheint
wie peter sein traum. den platz neben ihm nimmt eine gratiszeitung ein – ulrich nimmt sie nicht an sich, er gehört wohl einer minderheit an, denn er kann sich zu jenen zählen, die noch nie solch
ein blatt in der hand gehabt haben. er war heute morgen früh aufgestanden, die frau neben ihm schlief noch eine gute stunde weiter. zum zeitunglesen hatte er trotzdem keine ruhe gefunden. die
heutige ausgabe des standard muss bis zum abend warten. er fragt sich, wohin der vormittag verschwunden ist. auf dem weg zum postamt und zur bank fror ihn, trotz der lauen temperatur. wie so oft
in letzter zeit stimmte ihn der weg aus der wohnung depressiv. vorbei an kinderspielplatz und hundezone, beide zu klein, vorbei am kürzesten grüngürtel der stadt, eigentlich nur ein grünfleck
neben der auffahrt zur autobahn. dann die erinnerung daran, was der tag ihm bringen würde. er versucht, in gedanken bei der frau zu bleiben und nicht weiterzuschweifen zu seinem arbeitsplatz, wo
er in einer halben stunde den spätdienst antreten wird. der chef nervt, die eine kollegin nervt, selbst die klienten und klientinnen nerven ihn seit tagen. vielleicht sollte er in zeitausgleich
gehen oder in krankenstand? der halb schlafende neben ihm nimmt die musik, von der einzelne töne aus den luftritzen zwischen kopfhörern und ohrmuscheln in den raum dringen, höchstens unbewusst
wahr. es ist eine unübliche zeit, um zu schlafen. er fährt von der frühschicht nach hause, die heute besonders anstrengend war. seine hände schmerzen. die straßenbahn fährt am zentralfriedhof
vorbei. er muss zur endstation, das heißt, das kollektive aussteigen wird ihn wecken, ehe er noch seine station verschläft. ihm gegenüber sitzt der mann mit anzug und krawatte. für diese gegend
sind sakkos und weiße hemden unüblich, krawatten sowieso. ulrich fragt sich, was jemand wie der in dieser gegend macht. vielleicht ist er immobilienmakler? oder er fährt zu einem
vorstellungsgespräch? kehrt heim von einer arbeit, die seriöse kleidung verlangt, aber kein gehalt einbringt, das ihm ermöglichen würde, sich eine wohnung in einer schöneren umgebung als dieser
anzumieten? oder er kommt von einer sponsion? von einer hochzeit? der mann heißt jonas und wundert sich, dass jemand wie ulrich klassische musik hört.
quartett #2
einblicke
er fragt aber nicht nach den fahrausweisen. sophia bleibt in der straßenbahn sitzen, hinter der vierergruppe, die sie gerade gemustert hat. leute mustern ist ein guter zeitvertreib. seit sie lena
hat, fährt sie nicht mehr schwarz. lena schläft im tragtuch, das mutter und kind umwickelt und von einem einzigen festen knoten zusammengehalten wird. sie ist immer noch klein für ihre vier
monate, obwohl sie schon merklich gewachsen ist. „die ist kleiner als unsere schwarze henne“, hat peters mutter gesagt, als sie das erste mal nach der entbindung bei ihnen zu besuch war. die
schwarze henne ist in den backofen gesteckt worden und semmelknödelfülle hineingestopft, wo einmal eingeweide waren. einmal hatte sophia einen albtraum, in dem lena in den backofen klettert. als
sie das kind herausnehmen will, hat sie in den händen zwei topflappen, die eine glasform festhalten, darin ein knuspriges brathuhn. seither hat sie nichts mehr gebacken und kontrolliert
andauernd, ob der herd ausgeschaltet ist. peter nennt sie paranoid. und sie glaubt, dass peter sie betrügt. peter, der neben ihr sitzt und aus dem fenster ins schwarz des vorbeirauschenden
tunnels sieht, hatte vor kurzem auch einen traum. unter jeder oberfläche ruhen abgründe, aber im gegensatz zu seiner frau lässt er niemanden hineinsehen. er behält das geträumte im kopf, wo es
sich festsetzt und in endlosschleife immer aufs neue abspielt. er ist wieder drei jahre alt und sitzt mit lena im sandkasten. er nimmt lena die schaufel aus der hand, bis sie brüllt wie am spieß.
wie eine mutter kommt marion zum spielplatz geeilt – seine marion mit den langen, schwarzen haaren und den großen brüsten, an die er sich drücken kann, sie nimmt ihm die schaufel aus der hand,
hebt ihn hoch und trägt ihn davon. beim aufwachen hatte er das gefühl, er müsse sofort zum analytiker oder bei sophia beichte ablegen, beim frühstückskaffee wusste er schon, dass er schweigen
wird. gegenüber von sophia sitzt eine frau, die offensichtlich einige jahre jünger ist als sie. die frau hat einen schönen körper und ein makelloses dekolletee, aber ein ausdrucksloses gesicht,
findet sophia. um die augen ist sie zu stark geschminkt und ihre brille lässt sie brav aussehen: rahmenlos und mit schnörkseln und glitzersteinen an den bügeln. aber ihre lippen sind perfekt
geformt, fast zu perfekt um echt zu sein. sie könnte peter gefallen, denkt sie. peter hat sie noch nicht registriert. neben der frau sitzt ein mann, der plötzlich seine stimme anhebt und die
blicke von mutter, vater, kind auf sich zieht. er sagt seiner freundin (oder ist sie gar nicht seine freundin?), er werde heute nachmittag nach der arbeit ein neues handy kaufen gehen. eines mit
internet, touchscreen und taschenlampe. wofür er denn die taschenlampe brauche, fragt die frau. sie verstehe ihn nicht, sagt der mann. beide rücken je einen zentimeter voneinander
ab.
quartett #1
oberflächenspannung
in der straßenbahn die junge frau, von der wir nichts wissen, außer dass sie nach dem gesetz der wahrscheinlichkeit (welche den begriff gesetz laxer handhabt als die dreifaltigkeit der
gewaltenteilung) noch keine dreißig ist, dass sie einen nasenring und ein t-shirt von h&m trägt und anscheinend auch von dort kommt – in der einen hand hält sie ein unstrapaziertes sackerl
der kleiderkette. sie ist raucherin oder hat sich gerade an einem verrauchten ort aufgehalten. ihre haut ist empfindlich und leicht gerötet, der sonnenbrand muss von den letzten tagen herrühren,
um die nase haben sich sommersprossen gebildet – die hat sie aber vielleicht auch im winter. auf ihrem rucksack sind buttons mit den logos diverser rockgruppen und aufnäher mit den gesichtern von
kurt kobain und che guevara. ihr handy hat einen ringtune von placebo; sie hebt nicht ab, als es läutet, sondern schaltet um auf lautlos, zwischen schlachthausgasse und simmering nimmt sie es
aber drei- oder viermal aus der tasche, nur um es wieder einzustecken und erneut herauszunehmen. sie seufzt. sie trägt eine armbanduhr, die zehn minuten nachgeht. vielleicht hat sie keine eile.
schräg gegenüber die andere frau, die gut 15 jahre älter sein könnte als sie, die eine helle hose und eine jeansjacke trägt, darunter ein rot-weiß-gestreiftes leiberl. die haare sind kurz und
dunkelrot gefärbt. um den hals trägt sie eine goldkette. in ihren händen eine illustrierte und ein kugelschreiber, ein blick auf ihren schoß verrät, dass sie gerade das kreuzworträtsel löst. der
dritte platz, neben der jungen und gegenüber der etwas älteren frau, wird von einem mann belegt. er kratzt seinen bart und räuspert sich, kramt in seiner tasche und legt sich für das verlassen
der straßenbahn eine zigarette und sein feuerzeug zurecht. das feuerzeug ist aus blauem plastik. die ältere dame mit der dauerwelle und dem kleinen hund auf dem schoß sitzt zwischen den dreien,
in fahrtrichtung. da die frau neben ihr üppige hüften hat, streift ihr knie an den beinen des neben ihr stehenden mannes, der um die 50 sein mag. er hat starke muskeln und einen runden bauch, ein
flinserl und eine lederjacke. um die uhrzeit sind kaum studierende unterwegs – die würden vielleicht bei der nächsten haltestelle aussteigen, weil sein erscheinungsbild dem klischee von jemandem
entspricht, der nach den fahrausweisen fragt.
sternschnuppe
du und die himmels-
decke. vorbehalten
den sternen und starlets.
doch wie du dich bettest,
so liegst du,
heißt liebling,
heut nacht noch liebling,
liegst
zwischen daunen-
federn und
scherben.
decke aus glas
alt- oder neubau.
unter der kuppel: 1 kopf,
blutig gestoßen
es fehlte an härte.
und: schlüssel
bekommst du keinen.
nur zwölf tür-
hüter pro jahr.
mit mengenrabatt.
plan b
jede hat – so sich die schönen träume in schäume auflösen, auch einen plan b: monika wird, wenn sie weder von einer talentshow entdeckt wird noch eine lehrstelle bekommt, wie ihre große schwester
davonlaufen und anderswo ihr glück versuchen. die schwester ist mittlerweile verkäuferin in linz und hat dort auch einen freund, den sie angeblich liebt. michaela hält an ihrem maturaziel fest.
an ein unbestimmtes glück, das ihr in die hände fallen könnte, glaubt sie nicht. das glück muss sie sich holen, sonst wird es zu einer anderen gehen. das größte unglück für sie wäre es, so ein
ödes leben zu führen wie die erwachsenen, die sie kennt. da würde sie sich eher von einem hochhaus stürzen als mit einer arbeit zu enden, wo sie die zeit absitzt wie in der schule um gegen fünf
uhr nachmittags zu einem mann heimzukehren, den sie als notlösung geheiratet hat und mit dem sie vielleicht noch kinder hat, von denen alle sagen, dass sie ganz nach dem vater gehen. jessica
findet die hochhausidee schlecht. erstens besteht immer das risiko, dass unten jemand geht, und zweitens ist der fall sicher extrem grauslich. wenn sie eines tages beschließen sollte, nicht mehr
weiterzuleben, dann würde sie sich betrinken und anschließend die pulsadern aufzuschneiden, am besten beidseitig. dass dabei nicht viel schiefgehen kann, glauben ihr auch die anderen, schließlich
war es jessica, die ihnen beigebracht hat, wie sich herzchen oder kleine blumen mit spitzen blütenblättern unter die haut schneiden lassen, ohne dass die motive allzu schnell wieder verschwinden.
monika hält nicht viel davon, sich umzubringen, aber wenn, dann geht das nur mit tabletten und zwar recht vielen. es ist ja auch kein kunststück, an die heranzukommen, ein zehntel der
hausapotheke reicht für ausgelassene stimmung und ein viertel für einen ordentlichen rausch – im internet finden sich sicher auch mischungen, die frei erhältlich sind und für einen sicheren
abgang sorgen. gesetzt den fall, dass wirklich ein notfall eintritt, scheint ihr die idee, zu ihrer schwester zu fahren und dort zu bleiben, ein besserer ausweg. auch nina will, sollte gar nichts
mehr gehen, lieber die flucht ergreifen: aber sicher nicht nach linz, sondern in die usa, dort könnte sie dann als kellnerin arbeiten oder in einem supermarkt, notfalls an einem hot-dog-stand. in
den usa würde sie in einem wohnwagen wohnen, gemeinsam mit einem netten mann, vielleicht einem, der aus lateinamerika oder afrika kommt und schon die halbe welt gesehen hat, oder mit einem
freundlichen amerikaner. kinder will sie keine, heiraten aber schon. aber erst einmal die schule hinter sich bringen, ob fünf oder acht jahre lang, wird sich ohnehin zeigen.
so sitzen sie nun in der freistunde zu viert im hof und vertreiben sich die zeit. hinter dem üppig wuchernden buchsbaum machen sie es sich gemütlich und rauchen die marlboros, die
jessica heute morgen ihrer mutter geklaut hat. nina fährt sich mit der freien hand durch ihre von natur aus platinblonden haare und monika malt mit einem schwarzen lackstift karos auf ihren roten
rucksack. da die sonne scheint, tragen alle große sonnenbrillen mit dunklen gläsern und plastikrahmen. einzig michaela hat noch eine graue, mit metall umrandete, da ihr taschengeld seit monaten
immer für etwas anderes draufgegangen ist. aber dafür hat sie die schönsten wimpern der ganzen klasse, die durch die hellgrauen gläser noch gut sichtbar sind. aus der anderen ecke des hofes kommt
der schulwart ihnen entgegen. er sieht genau, dass es mädchen aus der unterstufe sind, die da verbotenerweise rauchen, aber wie jedes mal beschließt er auf halbem wege umzudrehen und so zu tun,
als hätte er nichts bemerkt.
plan a
michaela ist dreizehn, genauso wie jessica und monika. nina ist vorgestern 14 geworden. die vier sitzen in ebenjener reihenfolge von links nach rechts in der letzten reihe an der fensterseite der
3A-klasse. die meisten unterrichtenden mögen die letzten reihen nicht: es entspricht ihrem erfahrungswert, dass dort die aufmüpfigen schüler und schülerinnen sitzen, die aus den so genannten
schlechten verhältnissen morgen für morgen in die schule kommen und diese (ob aus böser absicht oder alternativlosigkeit sei dahingestellt, zumal es im arbeitsalltag kaum einen unterschied macht)
in das klassenzimmer hineintragen wie den dreck an ihren schuhen. an die hausschuhpflicht halten sich hier höchstens die aus der ersten, die streberinnen und streber. wieso denn auch, wenn der
ganze lehrkörper mit seinen vielen füßen ungestraft in straßentretern durchs schulgebäude stolziert? (die realschule ist eines der hässlichsten bauwerke der stadt. michaela sagt manchmal, dass
sie sich darüber wundert, dass es den tauben nicht zu schiach ist um sich auf dessen fensterbretter und dachvorsprünge zu hocken und selbst zum hinscheißen gebe es bessere orte …) einzig der
schulwart trägt schlapfen. die passen zu ihm wie der schnauzbart und der freundliche polnische akzent.
außer der flimmerkiste und dem computer brauchen die vier musik, um die langeweile der nachmittage umzubringen. jessica und nina hören genauso, wie sie sich mit der fernbedienung in der hand
durch die kanäle zappen: sie spielen einen song kurz an, nach einigen takten fällt ihnen ein anderer ein, den sie sofort anklicken, um nach einer halben oder einer ganzen minute erneut einen
anderen rhythmus, eine andere melodie zu wählen. es ist schön, so viel wahl und so viel auswahl zu besitzen. michaela und monika haben sich die gegenteilige gewohnheit zueigen gemacht: sie hören
die lieder in dauerschleife. die dreieinhalb minuten von playground love sind beim ersten mal, beim zweiten und beim dritten mal genau die gleichen: monika gnotzt beinahe regungslos auf
ihrem sitzsack, air in den immergleichen hebungen und senkungen, die gleichen kopfbewegungen an den ewig gleichen stellen, selbst die emotionen machen dreimal die gleichen moves mit.
du bist maßlos, sagt monikas mutter zu ihr. dauernd musik hören, fressen und irgendeinen blödsinn konsumieren. sie versteht nicht, warum eine dreizehnjährige dauernd bücher haben will,
einen mp3-player und sogar einen push-up-bh. aber mama, den haben doch alle!, sagt monika. das stimmt aber nicht: michaela sagt immer, wenn den buben ihr busen zu klein sei, zwinge sie
ja niemand zum hischauen. den kampf um taschengelderhöhungen und extrageld für besondere wünsche kennen auch nina und michaela. einzig jessicas mutter gibt immer geld her, sobald ihre tochter um
welches kommt.
und alle vier haben sie pläne, was sie mit ihrem leben anstellen werden, wenn sie erst die fünf jahre pflichtschule hinter sich gebracht haben. michaela und nina wollen unbedingt maturieren,
obwohl nina, die schon einmal durchgefallen ist, sehr schlechte karten hat. michaela hat eltern, die ständig sagen, dass sie das nie schaffen werde. aber sie hält an ihrem traum fest: nach acht
jahren abschließen und dann irgendeine gute ausbildung machen, im schlimmsten fall auf kredit – und nachher genug geld verdienen, um es allen zeigen zu können, dass sie erfolgreich von der
eselsbank auf die karriereleiter geklettert ist. dann könnte sie auch im alltag markenklamotten tragen und hätte eine schöne wohnung mit pool, um die sie alle anderen klammheimlich, aber doch
merkbar beneiden. jessica will keine karriere machen, aber es auf die krankenpflegeschule schaffen – danach krankenschwester werden oder auch hausfrau mit einem oder zwei kindern und einem netten
mann, aber ganz sicher keine alkoholikerin wie ihre mutter, die nachts das versteckte bier aus der gemüselade holt. monika hat ganz andere pläne, die sie aber nicht so gern herausposaunt wie
die anderen. im scherz sagt sie manchmal auf die frage, wie sie sich die zukunft vorstelle, sie möchte reich heiraten und erben – im ernst will sie eine lehre machen: friseurin, das wäre
doch ein schöner beruf!
dreck und brokat
1 zeile in der zeitung hat zugeschlagen,
gleich neben dem inserat für ballkleider
1 titelbildschar von debütantinnen trifft sich
im altpapiercontainer mit dem girl von seite 7
beauty-tipps: doppelbelastungen mit concealer retouchieren
und zorn mit 1 freundlichen auftreten
dir irgendwann in 1 krise deine selbstbestimmung abschminken
oder sie drei stockwerke nach unten in den müllhof tragen
soll sie doch bekanntschaft machen mit 18-jährigen in weiß
und der frierenden jungen frau in rot
miniaturen in ich-form, #3
wir teilen ein einzelbett
„es ist schön, mit dir zu teilen.“
ich teile gerne. ich habe das kinderzimmer mit der schwester, geheimnisse mit meinen schulkolleginnen und sogar schon einen liebhaber mit meiner besten freundin geteilt. ich habe kein problem
damit, zu teilen. die mädchen aus meiner clique durften meine kleidung tragen und umgekehrt, auch wenn etwas neu war oder besonders schön. wir teilten kekse und notfalls, wenn eine von uns keine
dabei hatte, auch zahnbürsten. in meinen beziehungen wurden immer die inhalte beider geldbörsen geteilt – wenn niemand mehr vier euro für den nachtbus hatte, gingen beide zu fuß nach hause.
letzte zigaretten, die von hand zu hand gereicht wurden. bücher mit zwei lesezeichen an verschiedenen stellen. auch der kaffee wurde geteilt, wenn das pulver nur noch für eine tasse reichte. aber
du bist der erste mann, der mit mir in einem bett schlafen darf. jeder andere musste nach vollzogenen annährerungen, sexualakten oder auch nur nebeneinander liegend verbrachten nachmittagen auf
die couch ausweichen.
es bedeutet zu viel vertrauen, neben einem menschen zu schlafen. beziehungsweise: es bedeutet zu viel vertrauen für mich. vertrauen, das ich nicht aufbringe. früher wusste ich nicht, woran das
liegt. mittlerweile glaube ich, es zu wissen. der gute kumpel, der einmal – aus reinem platzmangel, das hatte ich ihm auch deutlich gesagt – neben mir schlafen durfte. der genauso betrunken war
wie ich. versuchte, mit mir zu schlafen, während ich schlief. irgendwie muss ich aufgewacht sein und geschafft haben, ihn abzuwehren – ein filmriss verhindert genauere erinnerungen.
seither schlief ich alleine. immer. tiere bildeten eine ausnahme. als ich noch in der wohngemeinschaft in der nußdorfer straße lebte, in diesem altbau mit der linde im hof, durfte bello bei mir
schlafen. bello war unser kater und ist kurz nach meinem auszug gestorben. er hieß bello, weil er erstens wunderhübsch war und sich zweitens verhalten konnte wie ein hund. als er krank wurde,
hatte ich ein schlechtes gewissen, weil ich fühlte, dass meine abwesenheit zu seinem zustand beigetragen hatte. ich habe meine drei mitbewohnerinnen und ihn trotzdem nicht besucht. ich hatte
angst, dass ich hätte bleiben wollen, meinen wohnungswechsel rückgängig machen. zurück in diese hohen, düsteren räume, in denen es nach kardamom und rauch roch. in denen sich zeitungen und
schmutzwäsche am boden häuften. und an deren wänden alinas photos hingen. meist schwarz-weiß, selten farbe. oft detailaufnahmen. die mochte ich am meisten.
das einzelbett, das ich mit dir teile, stammt aus der nußdorferzeit. du liegst darin und räkelst dich im halbschlaf, während ich versuche, die kaffeemaschine leise genug zu bedienen, um dich
nicht zu wecken. für gewöhlich wachst du auf, sobald ich mit gegenständen hantiere. heute nicht. eigentlich wolltest du mein einzelbett nicht übersiedeln. du meintest, du würdest uns ein größeres
kaufen, ein königsbett. ich war dagegen.
miniaturen in ich-form, #2
sie soll auch eine arbeit haben
„wenn sie kurz draußen platz nehmen …“
ich bin erstaunt, gleich am ende des bewerbungsverfahrens angelangt zu sein, obwohl es erst eine minute her ist, dass ich mit drei anderen rund um diesen tisch gesessen bin und indiskrete fragen
beantwortet habe. die top und flop 10 meiner persönlichen eigenschaften. [ich bin faul und unverschämt, hätte ich am liebsten geantwortet.] meine privaten ziele für die nächsten 10 jahre. etc.
etc.
es gibt nur eine gewinnerin – wie beim mensch ärgere dich nicht, mit dem feinen unterschied, dass die gewinnerin beim assessment center nach dem verlassen des spieltisches noch nicht weiß, ob sie
gewonnen hat, sondern mit den anderen in einer stuhlreihe sitzt, auf dem sessel hin und her wetzt, überlegt, ob es jetzt fehl am platz wäre, die toilette aufzusuchen … als kind musste ich immer
auf die toilette, wenn meine mutter mit mir einkaufen war, oder auf der bank, oder am postamt. sie wollte dann – zumindest, wenn sie es eilig hatte, und sie hatte es meistens eilig, – dass ich es
mir verhielt. wenn die alte dame vom postamt mir ein zuckerl in die hand drückte, musste ich sagen: „für meine kleine schwester auch eines, bitte.“
der mann kommt aus dem büro, vor dem wir gewartet haben, geradewegs auf mich zu. drückt mir die hand. ich habe den job bekommen. am liebsten würde ich zu meinem künftigen chef sagen: „für meine
kleine schwester auch einen, bitte.“ die kleine schwester ist heute einen kopf größer als ich [1.68, und sie könnte noch wachsen] und sie wird immer dicker. während ich aus wut auf alles
verzichte, was mir zustünde, verschlingt sie aus demselben beweggrund alles, was in ihre reichweite gelangt. meine wut ist älter als ihre. sie beginnt mit der wut auf ihre geburt. auf die eltern,
die mich nicht mehr bemerkten. sie waren glücklich mit dem kleinen wurm, der sich all ihre aufmerksamkeit einverleibte – und ich flüchtete zu meinen puppen oder ging zum spiegel, um mich zu
versichern, dass ich allemal noch interessanter sei als sie.
ich schreibe nicht über das, was mir nahe liegt. ich schreibe nicht über meine kleine schwester, die seit zwei jahren erfolglos bewerbungen schreibt, wenn sie nicht gerade isst oder fernsieht.
ich schreibe keine autobiographie: ich lasse eine protagonistin morgens unter der dusche singen und ihre erlebnisse der letzten tage revue passieren. ich dusche nie morgens, ich dusche am
liebsten, nachdem ich von der arbeit komme, heißt meistens nachmittags. ich schreibe nicht über meinen letzten besuch im kaufhaus: vor dem spiegel in einer kinderhose. ich trage seit kurzem
wieder dreistellige kleidergrößen oder solche kleiner gleich 14. vielleicht sollte ich aufs neue anfangen zu kochen.
ich komme spätabends nach hause. du bist anscheinend ausgegangen. ich setze mich an den schreibtisch, öffne mein postfach und finde darin eine eingangsbestätigung von einer literaturzeitschrift
vor – ich bin fast selig über so viel höflichkeit. solltest du eines tages beginnen texte abzuschicken oder dich wieder für jobs bewerben, wünsche ich mir, dass auch du immer
eingangsbestätigungen und zu- oder absagen erhältst.
miniaturen in ich-form, #1
ich investiere in briefmarken
„macht drei euro vierzig, bitte …“
3 euro 40 nach berlin, nicht eingeschrieben, heutiger poststempel, 3 mal 4 seiten plus bio-biblio, verpackt in hellbraunes kuvert DIN C4, die texte gehen an 1 wettbewerb. [die blütenweißen
kuverts sind den zeitschriften vorbehalten, deren redaktionsmitglieder die zusendungen noch eigenhändig öffnen.] die gedichte sind schon lange druckfertig, bevor sie zum postamt gebracht werden,
an den meisten prosatexten nehme ich in letzter sekunde noch überarbeitungen vor. sie werden alle auf einmal gedruckt und zu kleinen stapeln sortiert, ein stapel pro kuvert. ich verpacke und
verschicke sie. meine texte werden flügge, weiße und braune brieftauben. meistens brechen sie sich ein bein oder einen flügel und kommen nicht mehr zurück.
ich wohne in 1100 wien, ansonsten im schriftlichen. [heißt so viel wie: ich schreibe.] wenn ich nicht zur arbeit gehe, verlasse ich die wohnung kaum. das bedeutet: ich bin nicht besonders
salonfähig. gelegentlich tue ich so, als ob – z.b. wenn ich eine lesung halte. das so tun als ob scheitert meistens: ich komme over- oder underdressed und unpassenderweise cum oder sine tempore.
einmal komme ich genau zeitgerecht. ein mit over- und underdresseden menschen angefüllter saal, eine unruhe, überall flüstern, hie und da finden und grüßen sich bekannte, tauschen neuigkeiten
aus. dann die ansage. kurz stille. drei texte der kollegin. applaus. dann mein text. räuspern. meine stimme hat heute herzklopfen, ich soll lesen – ein lapsus …
… ich komme nach hause und bin mißmutig gelaunt. du stehst in der küche und riechst nach faschingskrapfen aus dem zehnerpack, das am aschermittwoch im angebot war, und du sagst, schreiben sei
selbstverwirklichung – gestern hast du gesagt, es sei lohnarbeit, aber eine der schlecht entlohnten. für mich sind schreiben und veröffentlichen zweierlei angelegenheiten, und erstere per
definitionem unbezahlt. aber viel schöner als die zweite, die im idealfall ein notwendiges übel darstellt oder gar eine notwendige freude. im schlechteren fall wird sie zur sucht – zu einem
verzweifelten haschen nach aufmerksamkeit. zu einem stich in der magengegend, wenn wieder ein naher kollege, eine entfernte bekannte gedruckt wurde. statt mir. zu einem ekligen zweifel, ob mein
ständiges schaffen denn überhaupt sinn hat, wenn es nicht nachgefragt wird. seit geraumer zeit versuche ich das einschicken mit dem glücksspiel zu vergleichen. so viele faktoren, die sich nicht
beeinflussen lassen. gute und schlechte texte der anderen, ebensolche geschmäcker der jeweiligen jury. das glück oder pech, den richtigen oder falschen text aus der schublade gezogen zu haben.
[doch auch schreiben ist zufall. ich denke dabei an mallarmé und den würfelwurf.]
ich sollte allerdings nicht mehr öffentlich lesen. menschen machen mir zu schaffen. ihre bloße anwesenheit. ich bin dünnhäutig geworden, nicht nur im übertragenen sinne. ich häute mich wie
libellenlarven und schlangen, mein körper stößt seine äußerste schicht ab, hässliche schuppige stellen breiten sich in meinem gesicht aus. topographien der belastung. feuchte kälte und überheizte
räume. junk food und schlafentzug, zigaretten und eine innere unruhe, die sich weder mit schokolade noch mit nikotin bekämpfen lässt.