Gedächtnis wich wünschte dieses Boot und keinen
Wimpernschlag
nur diesen Zauber mit dir und dir und dir und ihm
und ihr
– Marie-Thérèse Kerschbaumer, Neun Canti auf die irdische Liebe
Vom Fenster des Zuges aus sehe ich die Konturen deines Kleides. Du hast mich nicht bemerkt.
Denn es ist gewiß nicht der Sinn der Welt, aus „Nationen“ zu bestehen und aus Vaterländern, die, selbst wenn sie wirklich nur ihre kulturelle Eigenart bewahren wollten, noch immer nicht das Recht hätten, auch nur ein einziges Menschenleben zu opfern.
– Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft
Ein letztes Mal bei der Busstation. Die Wartenden von Heute sind nicht die Wartenden von vor Tagen. Die Gesichter wechseln stündlich. Eine siebenköpfige Familie, der Vater mit großen Plastikbeuteln in den Händen. Eine suchende Frau. Das schreiende Kind am Straßenrand. Die Frau hat ihr Kind gefunden. Überfüllte Busse. Vierzig Euro pro Kopf und das falsche Versprechen vom Fahrer, er werde sie bis zur Grenze fahren. Die Grenzen sind dicht. Kein Durchkommen mehr. Alles staut sich: Die Menschen und ihr Leid, das Leid und die Angst, die Angst und die Leere. Alles staut sich und verschwindet vor unseren Augen. Der Regen vermag es nicht wegzuspülen, im Gegenteil. Die ganze Scheiße, die hier passiert, ist unser Vergehen an einander. Ich schließe die Augen.
Die Zukunft ist ein Abgrund.
– Herbert Rosendorfer, Briefe in die chinesische Vergangenheit
Noch zwei Tage. Vielleicht aber auch heute.
Schmutz ist glänzend, wenn die Sonne scheinen mag.
– Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen
Heute ist mein Bruder wieder nach Hause geflogen. Nun bin ich alleine in der Wohnung. Das Licht, das den Esstisch erleuchtet, ist ein anderes als von vor Tagen. Verherbstlicht ist auch das Standbild da draußen. Die vielen pastellfarbenen Häuser, gebaut ohne Genehmigung irgendwann mal in den 90ern, als man für ein paar Devisen sich einen Schein ausstellen lassen konnte. Die versmogte Abendluft, die die Lichtpartikel rot färbt. Ganze Tage ohne dich. Die vielen leidigen Ausgüsse eines pathetischen Ich, das nur Selbstgespräch gelernt hat, sonst nichts. Bevor er ging, haben wir uns noch einmal tief in die Augen geschaut, uns umarmt. Letztendlich ist er mein Bruder. Manche Sachen ändern sich nicht.
Und so im Kusse sterb ich.
– William Shakespeare, Rome und Julia
Auf dem Weg in den Supermarkt sehe ich einen Polizeiwagen mitten auf der Straße parken. Mehrere Beamte haben sich über den leblosen Körper eines Mannes gebeugt. Eine Frau, die zufällig auf derselben Straßenseite geht, fragt, ob es dem Mann gut gehe. Ein Polizist schüttelt nur den Kopf, ein anderer wedelt mit der Hand vor ihrem Gesicht, und sagt ihr, sie solle verschwinden. Die Frau dreht um und verschwindet in entgegengesetzter Richtung. Der Brustkorb des Mannes bewegt sich nicht. Keine Hebung, die auf ein Atmen hindeuten könnte. Aus irgendeinem Grund muss ich an dich denken. Auch du hältst im Schlaf immer wieder den Atem an. In solchen Momenten kriege ich es mit der Angst zu tun. Ich gehe weiter. Schweiß perlt an meinen Schläfen. Ich entkomme nur knapp.
They say it´s your birthday
We´re gonna have a good time
– Beatles, Birthday
Mein Bruder hat heute Geburtstag. Er und seine Freunde haben sich im Zimmer verbarrikadiert. Ich höre lautes Gelächter zu trockenen Späßen, hin und wieder das Quietschen der Klotür. Ich schreibe dir eine Karte, versuche mich abzulenken. Es will mir nicht gelingen. Ich schmeiße die Ansichtskarte von Belgrad bei Nacht in den Eimer und gehe raus, um ein wenig die Beine zu vertreten. An der Trafik lese ich von sicherer Distanz die Überschriften der Tageszeitungen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite spritzt ein vorbeirasender Wagen einige Passanten an. Die lauten Flüche und Schrei kümmern niemanden. Als ich wieder zu Hause ankomme, ist alles still. Mein Bruder und seine Freunde sind weg. Ich sammle die kalten Zigarettenstummel vom Tisch, spüle die Biergläser ab. Als er wieder nach Hause kommt, liege ich bereits im Bett. Er öffnet leise die Tür zu meinem Zimmer, ich schaue auf, gratuliere ihm aus dem Halbschlaf heraus zu seinem Geburtstag. Er schließt wortlos wieder die Tür.
Das milde Abendläuten
Hallet über das Feld.
– Friedrich Nietzsche, Heimweh
Die Tage werden kürzer.
Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.
– Lew Nikolajewitsch Tolstoj, Anna Karenina
Heute sind meine Eltern gefahren. So wie sie gekommen waren, so verschwanden sie auch hinter der Tür. Unmerklich, verhalten. Sie geben mir einige Küsse auf die Wangen. Meine Mutter weint ein paar obligatorische Tränen. Alles wirkt einstudiert. Schließlich ist es unsere Standardprozedur beim Verabschieden. Leise Floskeln bis zum Wiedersehen, das auf dieselbe Art und Weise funktioniert. Wir haben uns nicht viel zu sagen. Mein Bruder und ich schleppen ihre Koffer nach unten, verstauen sie in den Kofferraum, winken ihnen hinterher. Als sie weg sind, rammt mir mein Bruder seine rechte Faust in die Schulter, sagt mir, was für eine Pussy ich geworden sei. Dann geht er wieder ins Haus und lässt mich alleine am Fußweg stehen. Die Mülltonnen wurden wieder unter den Baum gerückt. Dort, wo du vor ein paar Tagen standst, klebt jetzt ein zerdrückter Kaugummi. Alles eine Prozedur. Du würdest das auch nicht verstehen.
gehat hob ikh a hejm, itzt hob ikh si nischt mer.
– Mordechaj Gebirtig, gehat hob ikh a hejm
Du bist seit drei Tagen fort. Das Wetter ist nicht besser geworden. Die Menschen, die im Park vor der Busstation auf ihre Weiterreise warten, schlafen in ihren getränkten Zelten und auf dem vom Regen durchweichten Boden. Der Matsch und die Kälte zwingen viele, sich unter die umliegenden Gebäude hinzustellen und zu warten. Manche haben gelernt, im Stehen zu schlafen. Niemand beschwert sich. Es herrscht ein kollektiver Wartezustand. Warten auf den Bus, warten auf der Grenze, warten im Regen, warten in der prallen Sonne, warten in der Kälte, warten mit dem Kind im Arm. Tagelang. Wochenlang. Monate. Ein Mann fragt mich in gebrochenem Englisch, ob ich seine Familie irgendwo gesehen habe, und hält mir ein Foto vor die Nase. Obwohl er eine dicke Wollhaube trägt, erkenne ich sein kantiges Gesicht auf dem Foto. Neben ihm, eine Frau mit Schleier und dick nachgemalten Augenbrauen, die ein kleines Mädchen mit krausem Haar auf dem Arm trägt. Ich schüttele den Kopf, gehe jedoch mit ihm zur nächsten Polizeiwache und übersetze seine Anliegen dem Beamten hinterm Schalter. Du bist seit drei Tagen fort und die Welt versinkt in Matsch.
Good Morning – Midnight –
– Emily Dickinson, Love poems
Auf dem Umschlag eines Ausstellungskatalogs ist das Gemälde Le Mystere de la nuit von Alphonse Osbert abgedruckt. Ein Paar bei Nacht. Der gelbe Mond am Ende eines Waldstücks. Dunkles Violett umgibt die zwei Gestalten, die wie Schattenschnitte in der Landschaft stehen. Sie hebt die rechte Hand und deutet auf etwas, was der Betrachter des Gemäldes nicht sehen kann. Obwohl ihre Gesichter mau sind, in Schwarz getaucht, lassen sich dennoch Züge erkennen: seine Aufmerksamkeit, ihre Neugier. Das Nicht-Gezeigte ist ihr alleiniges Geheimnis. Alles Weitere, nur Sehnsucht.
Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du.
– Martin Buber, Ich und Du
Sie ist weg. Von jetzt an nur noch ein Du. Und Ich?
Faceless
Bones scatterd trough the fields
Winds cutting my flesh
– Basho
Ich sitze alleine in meinem Zimmer. Draußen ist alles Bewegung: Mein Bruder geht in der Wohnung auf und ab, diskutiert mit meinen Eltern über Geld; Fahrzeuge auf der Straße, keinem bestimmbaren Ziel entgegensteuernd; vor dem Parlamentsgebäude ist heute eine Demonstration gegen dieses und jenes; ungefähr fünftausend Menschen schlafen unter freiem Himmel im Park vor der Busstation, warten; dreitausend weitere schlafen unter freiem Himmel an der Grenze, warten; vierzig Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, warten; sieben Millionen Menschen leben, essen, trinken, schlafen, lieben, fluchen, sterben jeden Tag in Serbien; sie muss jeden Augenblick die Tür zu unserer Wohnung öffnen; Europa zittert; die Erde dreht sich; das Universum, so eine Theorie, dehnt sich. Ich sitze alleine in meinem Zimmer, schneide Luft.
Die Sonne strahlte auf die Fäulnis nieder
– Charles Baudlaire, Ein Aas
Sie reist heute ab. In meinem alten Zimmer steht ihr vollbepackter Rucksack wie ein grauer Fels zwischen den Betten. Sie küsst meine Mutter und meinen Vater drei Mal auf die Wangen, schüttelt meinem Bruder verhalten die Hand. Wir gehen aus dem Haus. Draußen tobt die Hauptstraße in regelmäßigen Intervallen des Busfahrplans. Es fehlen die Mülltonnen, die gestern noch links neben dem Haus standen. Jemand hat sie einige Meter weiter nach oben gerückt, dort, wo noch etwas fehlt, nämlich der Baumschatten. Die pralle Sonne nährt die Fäulnis von Restmüll, Bananenschalen, halben Apfelstücken, leeren Plastikflaschen, Windeln, Haustierkadavern, verirrtem Getier. Alles in dieser Tonne wird zur Prozession, zum Zerfall, dem alles weitere hier ähnelt oder ähneln wird. Die Faszination des Gestanks, eine geile Erregung, nur mit der Art Schauder vergleichbar, die einen dann überfällt, wenn Abart und Fetisch sich in Verwunderung verwandeln. Diese Verwunderung zeichnet sich an meinem Gesicht ab. Sie fragt mich, ob alles in Ordnung sei. Ich antworte, ich sei traurig, dass sie schon fahren müsse. Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange und wir gehen weiter zur Busstation. Auch unser Zur-Busstation-Gehen ähnelt einer Prozession, der eine eigene Art Trauer anhaftet. Auf der Straße wird gerade ein Taubenrest von einem weiteren Fahrzeug zertreten. Sonne nährt weiterhin, doch diesmal meine Kopfschmerzen. Der Bus ist schon zu sehen. Ich renne los, sie mir nach. Dann schließt die Tür, und ich schaue nur dem bretternden Lärm hinterher.
Die Städte wurden schöner …
– Stefan Zweig, Die Welt von Gestern
Zwischen der Ada Ciganlija, der großen Flussinsel, und der Branko-Brücke, sage ich zu ihr, gäbe es einige nette Restaurants, in denen man günstig Fischsuppe zu sich nehmen und die alten Hafengebäude bewundern könne. Es ist ein Versprechen, das ich ihr gebe. Das Versprechen eines Ortes in absolutem Stillstand. Etwas Uneinholbares, ein Versteck, nur für sie und mich. Als wir dort ankommen, dort, wo früher die verfallenen Fabrikgebäude und Hafenanlagen gestanden haben, die alten Restaurants und Bars von außen ein gelblich warmes Licht auf den Gehsteig warfen, die Personen im Inneren als Schattenspiele für die Passanten ihre einstige Erfüllung fanden; dort, am Scheideweg, wo der alte Kai aufhörte und die Roma-Slums Belgrads anfingen, nicht einmal einen kurzen Blick von hier entfernt, hier, wo wir jetzt stehen und es schon zu spät ist. Es ist nichts mehr da. Vor einem Jahr kündigten sie den Bau einer neuen Skyline für Belgrad an. Niemand hatte daran geglaubt, am wenigsten ich. Sie fragt mich, was mit mir los sei? Ich bleibe stumm und fixiere den Punkt, an dem früher das Restaurant gelegen hat. Eine riesige Fläche hat sich aufgetan. Nur eine einsame Planierraupe und ein Bagger stehen drauf. Eine Steppe, die wer-weiß-wie-viele Stadien misst. Hier stand, sage ich leise zu ihr, früher mal ein Viertel von der Größe Salzburgs. Sie verstummt und starrt mit mir in den leeren Raum, der sich irgendwann mal zwischen diesem und dem letzten Sommer aufgetan hat. Kein Mensch zu sehen. Auch das Roma-Viertel ist weg. Tausende von Menschen zwangsumgesiedelt. Ein Schauer befällt mich und wir gehen stumm neben einander weiter. Zahllose Gedanken durqueren meinen Kopf. Sie versucht, mich aufzumuntern, sagt, es gebe immerhin noch die vielen Fischer am Kai, die diesem Bild vom alten Belgrad entsprächen. Ich schaue auf, lächele und drehe mich zu ihr. Ohne ihr zu sagen, dass der Umriss, auf den sie im Dunkeln deutete, nur die Bronzefigur eines Fischers sei, drehen wir uns um und gehen nach Hause.
Sage mir o mein Bruder mein Mensch: wer wer von den beiden bist du?!
– Johannes R. Becher, Mensch stehe auf
Mein Bruder ist heute Morgen angekommen. Wir haben uns nicht viel zu sagen. Seit wir beide weggezogen sind, haben Floskeln und Phrasen einen sonderbaren Keil zwischen uns getrieben. Meine Mutter ist glücklich, die beiden Söhne wieder im Haus zu haben. Wir sitzen alle am Tisch und schlürfen schweigend unsere Suppe. Auch sie ist da, schweigt mit. Vergleicht im Kopf die Tischsituation, wenn wir bei ihren Eltern zu Hause sind. Das Geplapper und Gekicher. Die vielen Gespräche und die Lebendigkeit. Mein Bruder schaut kurz auf, fragt, wie es in Salzburg sei und ob ich seine alten Freunde irgendwo in der Stadt gesehen habe. Ich verneine. Dann senken wir wieder unsere Köpfe und schweigen weiter. Sie vergleicht abermals. Das bemerke ich am starren Blick, der eine unscheinbare Falte über ihrem rechten Auge geworfen hat. Unterm Tisch nehme ich ihre Hand. Sie schaut mich kurz an, lächelt und widmet sich gleich wieder ihrer Suppe. Ich betrachte das Tattoo meines Bruders an seinem linken Arm, das meinen Namen trägt und schmunzle. Er schaut kurz auf, unsere Blicke treffen sich. Er fragt, was es da zu glotzen gibt. Ich lache kurz auf, meine Mutter lacht kurz auf, mein Bruder auch, und sie, sie lacht auch kurz auf. Meine Mutter ist glücklich, die beiden Söhne wieder im Haus zu haben.
Vor der Liebe bin ich nicht geflohen
O komm Geliebter, komm zu mir!
– Dschalal ad-Din ar-Rumi, O komm Geliebter
Sie stöhnt. Unter mir ist alles ein Beben. Über mir staut sich die Luft zu formlosen Klumpen. Keine Beschreibung braucht diese Wölbung, kein zutrauliches Wort dieser Leberfleck. Wir denken uns nichts dabei, und beim Sich-Nichts-Dabei-Denken denken wir an vieles, was wir uns bei Tag nicht eingestehen wollen: Ich an meine Jugend, die ich als Pfusch abgetan habe. Sie an ihr Kind, das sie nicht kennenlernen wollte. An dieser Vermutung entzündet sich ein schwaches Feuer. Die Lunte brennt, bereit zum Schießen. Sie stöhnt, ich auch. Verdammt sollen wir sein. Doch immer gemeinsam.
Djelem djelem lungone dromesa
Maladilem schukare romenza
djelem djelem lungone dromesa
Maladilem bachtale romenza
– Žarko Jovanović, Djelem Djelem (Hymne der Roma)
Ein ohrenbetäubender Lärm geht durch die Straße. Sie dreht sich um und sucht nach der Ursache. Ich zeige auf das Gefährt, das sich mühsam die Straße hinaufschleppt und dicke braune Wolken aus den Rohren pustet. Die Roma, erkläre ich ihr, würden das öfters machen: Sie nehmen einen Einachsschlepper, spannen hinten einen alten Karren ein, und fahren so von Viertel zu Viertel und sammeln Altpapier und allerlei Metall; im Grunde, würde Belgrad an seinem Müll ersticken, wenn die Roma nicht wären, sie haben in Serbien das Recycling erfunden, und als Dank ernten sie nur Hass und Vergessen. Den Mann, der das geflickte Gefährt bedient, umrauscht ein dicker dunkler Bart. Nur der qualmende Zigarettenstummel in seinem Mundwinkel bildet einen Kontrast zum Restbild. Als er uns und unsere vor Neugier aufgebauschten Körper im Vorübertuckern sieht, dreht er seinen Kopf und grüßt uns mit einem Lächeln. Wir heben die Arme und winken dem sonderbaren Gefährt hinterher. Es sei schon erstaunlich, sage ich: jetzt, wo so viele Menschen im Land und auf der Durchreise sind, werden die Roma endgültig vergessen werden.
In mir haben sich meine Ahnen verfangen,
und ich spüre unter meiner Stirn, unter meiner Haut,
wie eine leichte Bewegung, Daunen, ein Geschenk des Lebens,
ihren seherischen Atem, ihr seherisches Leid.
– Miroslav Antic, Die Vollkommenheit des Feuers
Am Morgen säumen einige Lichtstreifen ihr Haar. Ich stehe auf und hole mir Wasser aus der Küche, setze mich auf die Couch neben meiner Mutter, die einen dicken Schmöker in der Hand hält und dessen Umschlag betrachtet. Sie scheint, mich nicht bemerkt zu haben. Die Erinnerung an meine Großmutter taucht insgeheim wieder auf. Auch sie bemerkte mich in ihren letzten Jahren nie. Die Demenz, die sie zerfraß, immer wird sie auch in uns, in meinem Bruder, meiner Mutter und mir vermutet. Ein lahmender Parasit, der einem die Erinnerungen Stück für Stück wegfrisst, bis nur Gestammel und Inkontinenz von einem übrig bleibt. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und betrachte eines der letzten Fotos mit meiner Großmutter. Die grauen Locken, die feinen Kerben und Falten ihres Gesichts, die Mundwinkel zum Halblächeln gekrümmt. Auf dem Foto ist sie zweiundsiebzig Jahre alt, und nichts verrät nach außen hin ihre Krankheit. Doch da ist ihr Blick. Die leeren schwarzen Augen, tief und glatt wie Seen in Dunkelheit. Ich drehe mich wieder zu meiner Mutter. Sie hat mich bemerkt, lächelt, zeigt die neugemachte Zahnreihe, wünscht mir einen guten Morgen.
Der Abend verschwindet grau in Wind und Wasser.
– Arno Schmidt, Pharos oder Von der Macht der Dichter
Es regnet. Ein merkwürdiger Wind pfeift in den Rohren. Ich beobachte den Taubenkäfig meines Nachbarn und zähle insgesamt 23 Vögel. Sie sitzt im Wohnzimmer und redet mit meiner Mutter. Mein Vater ist meine Tante besuchen gegangen. Ich höre vom offenen Balkon im Wohnzimmer aus, wie nasse Reifen auf nasser Straße gleiten. Draußen überbietet sich das Grau mit immer ärgeren Nuancen. Heute bleiben wir zu Hause.
Hier in dieser öden Heide
ist das Lager aufgebaut,
wo wir fern von jeder Freude
hinter Stacheldraht verstaut.
– Börgermoorlied
Wir stehen am anderen Ende der Branko-Brücke. Eine vierspurige Straße führt über die Save direkt nach Neu Belgrad. Rechts glitzert das riesige neue Einkaufszentrum, wechselt im Halbminutentakt die Neonfarben. Ich zeige mit dem Finger nach links zum weißen ovalen Gebäude. Sie erahnt einige Fenster, von denen eines eingeschlagen ist und die rundliche Form, die wie ein Schiffsheck aus dem Nichts nach vorne drängt. Der Rest wird von einem dichten Gebüsch und wuchernden Kletterpflanzen geschickt kaschiert. Sie sagt, es sei ein schönes Gebäude, fast wie ein Ruhepol im ganzen Gewirr und Straßenlärm dieser städtischen Einöde. Ich sage ihr, dass dies das Hauptgebäude des Staro Sajmište sei, des ehemals größten Konzentrationslagers auf serbischem Boden. Heute sei die Halle eine Disko.
Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen,
Der wilde Wald, der harte und gedrängte,
Der in Gedanken noch die Angst erneuert.
– Dante, Die Göttliche Komödie
Wir machen einen ausgedehnten Spaziergang bis zum Košutnjak, dem größten Wald der Stadt. Es kann keine Lösung geben für dieses Land,sage ich ihr, erst wieder in zwanzig Jahren, wenn überhaupt. Ich bin angespannt. Sie schaut mich vedutzt an, versteht meine Argumente nicht. Ich verstehe sie selber kaum, suche nach Worten und Beispielen. Wir verlassen den Hauptweg und biegen links in den Wald hinein. Die Baumkronen werfen graue Schemen auf den schmalen Erdweg, der hier und da von Lichtkoben entzweigerissen wird. Die Erde ist trocken. Kein Matsch, in dem unsere Füße versinken und keine Blätter, die unter unseren Sohlen rascheln könnten. Im Dickicht vernehme ich Geräusche, die mich an allerlei Kriechtier denken lassen. Unten ist dennoch alles ruhig. Oben zwitschert allerlei Federvieh Atonales im Durcheinander und gegen den Ostwind. Ich schaudere. Sie fängt meinen Schauder auf und greift nach meinem Arm. Wir schweigen eine Zeit lang. Sie schaut rauf zu den wirren aus abermillionen Strichen zusammengefügten Netzen, die, wenn man den Blick wieder nach vorne richtet, als Äste für sich allein stehen und im leeren Raum nach Luft greifen. Ich schaue auf den Boden und sammle meine Gedanken. Solange wir sorglos mit unserer eigenen Vergangenheit umgehen, solange wird es uns schlecht gehen, sage ich zu ihr. Sie fragt nicht nach, schaut weiterhin nach oben. Sie weiß, wovon ich spreche. Wir gehen immer weiter den Weg entlang, dann steil bergab. Unten angekommen führt der Weg noch ungefähr hundert Meter weiter. Dann, hinter einer Böschung, beginnt wieder die Straße.
Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir geben will.
– Tanach, Schemot
Wir Frühstücken am Esstisch. Meine Eltern schauen sich eine Dokumentation über deutsche Ferienparks an. Sie reicht mir die Teekanne rüber, ich ihr einen Löffel zum Umrühren der Milch in ihrem Kaffee. Ich beobachte meine Eltern. Ich sehe eine naive bäuerliche Sentimentalität in ihren Augen, weshalb es mir schwerfällt, sie zu verurteilen.
Daddy, you can lie back now.
– Sylvia Plath, Daddy
Mein Vater erzählt ihr in gebrochenem Deutsch Geschichten über sein Dorf. Bitterarm, hartes Bauernleben, neunundzwanzig Häuser im ganzen Dorf, eine asphaltierte Straße, ein kommunistisches Denkmal, erklärt er ihr, mit seinen Händen unsichtbare Wege in der Luft zeichnend, tief in den Topf seines ihm angeborenen Pathos greifend. Sie lacht. Halb aus Anstand, halb aus Trauer, die ich in einem entscheidenden Augenblick in ihrem Gesicht gelesen habe. Sie hat sich leicht ausspielen lassen.
Vor der Verfassung und dem Gesetzt sind alle Menschen gleich.
– Die Serbische Verfassung, Abschnitt 2, §21
Der serbische Polizist, der gestern von den Medien mit einem syrischen Jungen im Arm liebevoll inszeniert wurde, ist Muslim und albanischer Herkunft. Heute schreiben die lokalen Zeitungen nicht mehr der serbische Polizist mit dem syrischen Flüchtlingsjungen im Arm sondern der Polizist mit dem syrischen Flüchtlingsjungen im Arm.
Der untätige, müßiggängerische Geist, der nur im Schlafe eins mit der Welt wird –, worin sollte er sich denn üben, wenn nicht darin, die Namen der Dinge auszuweiten, die Dinge selber aber leerzuschöpfen und durch bloße Formeln zu ersetzen?
– Emil Cioran, Lehre vom Zerfall
Sie schläft in meinem alten Zimmer. Ich sitze im Wohnzimmer mit meinen Eltern. Wir schauen uns gemeinsam die Nachrichten an. Seit Tagen ein- und dasselbe Thema und das dazugehörige Tauziehen um das Vorrecht aufs Recht-Haben in Sachen XYZ. Sachen, bei denen ein jeder vor der Kamera zum Experten mutiert, doch im Grunde um das Thema herum redet. Ich bemerke eine seltsame Art an Verwirrung und Angst bei all den namenlosen Interviewten. Sie reden wirres Zeug, Aneinanderreihungen von Wörtern, die sich selbst auschöpfen, solange sie nur oft wiederholt werden: Menschenrechte, Asylferfahren, Syrienkrieg, Flüchtlinge, Flüchtlinge, Flüchtlinge, Refugees, Zeltstadt, Flüchtlinge, Abschiebung, Hilfe, falsche Flüchtlinge, Asyl, Syrien, Nigeria, IS, IS, IS, IS, Menschenrechte, Rechte, Hetze, Flüchtlingsheime, Brand, Brände, Kinder, Flüchtlingskinder, Menschenrechte, Bürgerrechte, Flucht, Ungarn, Serbien, falsche Flüchtlinge, Syrienkrieg,
Grenze, Grenze, Grenze, Grenze, Grenze, Grezne, Grenze, Grenze, Grenze, Grenze, Grenze, Grenze.
Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich …
Franz Kafka, Nachgelassene Schriften
Dort drüben: die Gazela-Brücke. Links von ihr die alte Eisenbahnbrücke und dann die neue Belgrader Brücke. Sie fanden keinen offiziellen Namen, der sich bei der Bevölkerung auch durchsetzen konnte. Dann rechts von der Gazela die marode, rostbraune Straßenbahnbrücke. Und schließlich Brankov Most, die Branko-Brücke. 1984, erkläre ich ihr, hätte sich von der Brücke der berühmte Dichter und Kinderbuchautor Branko Ćopić in Wasser gestürzt und so den Freitod gewählt. Daher also der Name, antwortet sie. Ich sage ihr, der Name hätte nichts mit diesem Branko zu tun, er komme von anderswo her. Woher, fragt sie. Ich schweige, lächle beschämt, denke einige Sekunden darüber nach und schüttle schließlich den Kopf. Ich kann ihr keine Antwort auf ihre einfache Frage geben.
Jeder beweint nach seiner Façon die entschwindende Zeit
– Louis Ferdinand Celine, Reise ans Ende der Nacht
Wir sitzen im Park am Hotel Palace und trimmen Dosenbier. Der beliebteste Ort der Belgrader Jugend, wie ich ihr erkläre, am Wochenende sei der Park voll, man sehe nur Menschen, keine Flächen. Vor unserer Bank in Augenweite wurde ein mannshoher Berg Kies aufgeschüttet. Wir fragen uns, wofür er da ist. Dann steigt ein vorbeiradelndes Kind von seinem Minibike und rennt unkoordiniert, in vollem Anlauf auf den Berg zu und schmeißt seinen kleinen Körper frontal auf den Kies. Sie fängt lauthals an zu lachen und erklärt mir, das Mysterium des Kiesberges sei gelöst. Ich schmunzle und blicke um mich. Nichts hat sich verändert in den vielen Jahren, seit ich Belgrad verlassen habe. Die Fassade der Akademie für angewandte Kunst verfällt auf die gleiche Art und Weise wie vor sechs Jahren. Die angenagten Fensterfronten mit ihren Holzrollläden erinnern mich an Zeiten, die meine Eltern gerne und oft beweinen, meine Generation jedoch wenig angingen. Die Geräuschkulisse – eine Mischung aus unbändigem Verkehr, nahem Stadtzentrum und der riesigen Bushaltestelle unterhalb des Parks – bleibt immer gleich. Genauso wie die Gerüche vom Urin und den Abgasen und den Fäkalien immer gleich bleiben, eine sonderbare Mischung, die manche sogar als angenehm empfinden. Die umliegenden Cafés haben neue Namen erhalten, wahrscheinlich auch neue Besitzer. Die Gesichter der Menschen sind älter geworden, es sind aber immer noch dieselben Gesichter. Viele kenne ich noch von früher, zumindest bilde ich es mir ein. Als ich bemerke, wie Miloš – den ich als Einzigen in der Menge erkannt habe – mich von weitem her grüßen will, drehe ich mich zu ihr und küsse sie. Ich lebe nicht mehr hier, und hinterfotzige Gepflogenheiten waren nie mein Ding. Ich beobachte lieber, trinke mein Bier und lebe ungern nicht mehr hier.
Und die beiden Gewässer sind nicht gleich: dieses wohlschmeckend, süß und angenehm zu trinken, und das andere salzig, bitter.
Koran, 35:12
Ich zeige ihr den Kalemegdan, die Festungsanlage Belgrads, der Scheitelpunkt des Landes sozusagen, der Scheitelpunkt Europas, wenn man so will, Zulauf zweier Flüsse, Save in die Donau, nicht umgekehrt, eine riesige Grenze, die viele unterschätzen, hier das Osmanenreich, da die Habsburger, einst, für manche immer noch, wir können das andere Ufer sehen, sie erträgt das Gelaber über Orient und Okzident nicht mehr, es ist doch alles aufgehoben, die Menschen schon längst da, wir müssen etwas tun, auch wenn es sich nur um flüchtige Gesten handeln sollte, ich stimme ihr zur Hälfte zu, die andere Hälfte verfängt sich in dem Teil der Geschichte, von dem wir nichts lernen konnten.
Nach dem Frühstück langweilte ich mich ein bißchen und ging in der Wohnung auf und ab. Sie war gemütlich gewesen, solange Mama noch da war.
– Albert Camus, Der Fremde
Sie begrüßt meine Eltern mit vorgehaltenem Lächeln und tritt einen Schritt zurück. Ihre Schüchternheit überspielt sie mit Schweigen. Mein Vater verschwindet auf die Toilette. Dann setzt sich meine Mutter an den Küchentisch und fängt an zu erzählen, wie ihre Reise von Sofia nach Belgrad war: Menschenkolonnen auf den Autobahnen; schlafende Kinder in den Armen ihrer Mütter; Väter, die als Vorhut Wege absichern; Helfer, die wie bei Marathonläufen alle halben Kilometer Wasserflaschen und Schuhe verteilen; draußen sind es über 35 Grad; niemand denkt ans Aufgeben. Sie macht eine Pause und wischt sich einige verirrte Tränen aus den Augen, dann fragt sie, wie es uns gehe und wie lange wir bleiben wollen. Ich antworte kurz und frage sie noch einmal nach der Lage an der Grenze. Sie fragt nur: Was werden die Menschen sich noch selber antun?
Und weil der Mensch ein Mensch ist
Drum will er was zu essen, bitte sehr!
– Bert Brecht, Einheitsfrontlied
Ich bringe frisches Blattteiggebäck und puren Trinkjoghurt aus dem Laden und erkläre ihr, dies sei ein typisch Balkanisches Frühstück. Zuerst esse man das Gebäck, oben drauf komme der Joghurt, sodass es am Ende gatschig die Kehle runter könne. Die fahrenden Monstren unter auf der Hauptstraße, auf die unser Balkon schaut, wirbeln Lärm und Staub auf, dass wir einander kaum hören, während wir die fettigen Finger an der Tischdecke sauber machen.
Auch die Sterne werden andere sein, hier, in allen Nächten in dieser Fremde weit fort von meiner Fremde=Heimat.
– Reinhard Jirgl, Abschied von den Feinden
Der Taxifahrer bittet uns in sein Auto. Noch bevor die Kupplung greift, zündet er sich eine Zigarette an, kurbelt das Fenster runter. Er erzählt, er habe sich gestern mit einem Kollegen volllaufen lassen und sei anschließend nahe der Grenze gefahren, um eine fünfköpfige Migrantenfamilie bei Horgoš abzusetzen. Noch bevor ich meinen Morgenkaffee austrinken konnte, war ich schon wieder in Belgrad, sagt er mit rauchiger Schnapsstimme, den Qualm aus seinen Nasenlöchern pustend. Allein im Juli und August habe er dreitausend Euro gemacht. Er versuche ja ehrlich zu bleiben, aber was soll er machen, schließlich verdiene er weniger als dreihundert im Monat, dies sein nun die Gelegenheit für ihn und seine Kollegen, so etwas habe er nur während der 90er erlebt, als die Vertriebenenschar nach Belgrad rein wollte. Sie sitzt hinter mir, ich greife nach ihrer Hand und sage ihr, sie solle sich anschnallen. Dann kurbele auch ich das Fenster runter und versuche, der Nacht wenigstens ein wenig Luft abzugewinnen.