Noch einmal liest Jeanne den Brief, den sie im Zellenbau entdeckt und abfotografiert hat.
IST
BEGNADIGT
WORDEN!!!
Du mein Liebstes, meine Kameradin! - wir sind uns wiedergegeben!!!
Heute. Etwa um 1 ½ Uhr wurde ich zum Herr Vorsteher beordert, wo mir zwei Herren der Justiz die Freude aller Freuden brachten!!! (unleserlich) es ist „ NUR“ ein weisser Briefbogen – mit 10
Zeilen - und 4 enthält unser ganzes Glück!!! Durch den Führer u. sein ermächtigter Herr Reichsminister bin ich zu 10 Jahren Zuchthaus begnadigt worden!!! Und ich weiß vor Freude nicht was tun
noch sagen!
Jeanne hört auf zu lesen und steckt ihr Handy zurück in die Hosentasche. Nein, mit der Vergangenheit in Kontakt zu treten, wird heute nichts, gesteht sie sich ein, vor allem nicht nach diesem
Brief. Da schreibt doch dieser Mann tatsächlich, dass er glücklich über 10 Jahre Zuchthaus ist. Wenn er das bereits als Segen empfindet, wie muss es erst im KZ gewesen sein? Jean hat die Grenzen
ihrer Vorstellungskraft erreicht. Nein, irgendwie passt das alles nicht zusammen. Dieser Brief und dann diese mit Wachtürmen und Mauern umzäunte Brache, über die buchstäblich Gras gewachsen ist.
Sieh sich das einer an! Jean lässt ihren Blick schweifen, langsam, von links nach rechts, über diese schöne Wiese, die unter strahlendem Sonnenschein schimmert. In der Mitte steht sogar ein
großer Baum und unter dem Baum –
Und auf einmal wäre ihr danach, diesen Moment zu filmen. Der Moment, in dem eine Frau mittleren Alters auf einem Gedenkstein sitzt und mit aufmerksamer Miene einer neben ihr befindlichen, kleinen
Greisin zugewandt ist. Und das alles unter diesem Baum. Jetzt ist sie plötzlich da, diese Nähe zu damals.
Keblatt genießt die Einsamkeit, die ihr im Augenblick vergönnt ist. Keine Schüler, kein Scheel, sondern nur sie und ihr, - ja, tatsächlich - Interesse, dem sie ungestört frönen kann. Nach der
gemeinsamen Besichtigung der Pathologie und Krankenrevierbaracken fasste sie den ihr kühn erscheinenden Entschluss, der Klasse zu gestatten, sich frei und nach eigenem Belieben auf dem Gelände
umzusehen. Möglicherweise nur deshalb, weil sie es satt hatte, in ängstlicher Erwartung eines schülerinduzierten Sittenverstoßes zu sein; oder vielleicht auch bloß ob der ihr nahe liegend
erscheinenden Annahme, dass keiner ihrer juvenilen Hasenhirne imstande sein würde, den an Denkmuskelschwund leidenden Scheel hinsichtlich Feingefühl und Reflexionsvermögen zu unterbieten.
Eines muss Keblatt diesem Mann ja lassen; dank seiner stolz dargebotenen geistigen und emotionalen Fäulnis ist ihr zu Bewusstsein gekommen, wie unaufgeklärt die sich aufgeklärt wähnenden
Deutschen wirklich sind und wie salonfähig die Ablehnung gegenüber der Gedenkkultur mittlerweile geworden ist. Es gibt viele Denkmäler, die mitunter eine gesellschaftliche Auseinandersetzung
beglaubigen sollen, und noch viel mehr Menschen, die das Gedenken damit für abgeschlossen halten.Wieder und wieder hört Keblatt diesen unsäglichen Satz, es muss doch endlich mal Schluss sein. Ist
sie masochistisch genug, sich zu erkundigen womit, erzählt man ihr stets und ständig irgendetwas von Schuld. Jawohl, mit der Schuld soll's genug sein! Das alles war doch lange vor der eigenen
Geburt! Wie kommt es, wundert sich Keblatt, dass so viele Deutsche gedenken mit Schuld entweder verwechseln oder gleichsetzen?
Sie kam heute ausschließlich mit Befürchtungen statt Ansprüchen in diese Gedenkstätte. Ob die Kinder Desinteresse zeigten oder Anteilnahme, war für Keblatt unerheblich. Sie versuchte mit dem
Schicksal, mit Gott, einem spekulativen, metaphysischen Etwas zu verhandeln, indem sie sich damit einverstanden erklärte, sowohl Aufmerksamkeit als auch Gleichgültigkeit seitens der Schüler
hinzunehmen, wenn im Gegenzug dazu keiner von ihnen sittlich entgleiste.
Bis Scheel plötzlich die Bühne betrat und wie all die anderen, die meinen, es müsse doch endlich mal Schluss sein, damit anfing, sich über das angebliche Einflüstern einer Schuld zu empören.
Keblatt schüttelt sich. Nein, und nochmals nein! Ihre kleinen törichten Hormonbomben sollen niemals so werden wie dieser Mann. Sie sollen lernen, Werte zu erkennen, zu schätzen und zu schützen;
Sie sollen lernen, der Versuchung zu widerstehen, Schreckliches zu relativieren und mithin zu verharmlosen. Sie sollen sich ihrer Verantwortung bewusst werden und ihr nachkommen. Und verdammt
nochmal, statt Kippen sollen sie ihre Scheißegalhaltung austreten - dann wachsen diese rastlosen Kreischfuchteln wenigstens noch ein paar Zentimeter.
Auch wenn sie Lucas heißen, Robin oder auch Stefan. Keblatt macht keinen Hehl daraus: Häufig empfindet sie nur Ablehnung gegenüber den dreien. Dabei weiß sie, dass sie weniger Verachtung als
vielmehr Zuwendung, Formung und positiver Beispiele bedürfen - all das, was ihr Elternhaus vermissen lässt. Es steht nicht in Keblatts Macht, die Jungs umzuerziehen; zumindest aber möchte sie
ihnen eine Alternative anbieten zum Stammtisch und Wertverfall.
Es war tatsächlich keine Einbildung, stellt Anja fest, die Rothaarige folgt Jeanne auf Schritt und Tritt. Immer ist sie in ihrer Nähe. Das kann doch unmöglich ein Zufall sein. Anja mustert das
Mädchen von oben bis unten. Vielleicht findet sie ja irgendeinen Hinweis. An der Ausstrahlung kann man schließlich schon viel ablesen. Wie beim Josef Fritzl zum Beispiel. Hätte Anja ihn irgendwo
auf sich zukommen sehen, hätte sie sofort die Straßenseite gewechselt. Aber nu: Wie eine Psychopathin sieht die Rothaarige dann doch nicht aus. Sie ist klein, zierlich und hat ein liebreizendes
Gesicht, aus dem etwas, na..., etwas Sensibles und Feinfühliges hervorgeht. Ihre Blicke sind verstohlen und wirken schüchtern, fast so, als wäre sie verliebt. Vielleicht ist sie das ja auch. Anja
blickt zu Jeanne, die mit großer Faszination etwas offenbar in der Ferne Liegendes betrachtet – was es ist, weißt Anja nicht, sie kann es von hier aus nicht sehen. Wie Jeanne so dasteht, so
interessiert, so betroffen... und mit ihrem Hut, den sie jeden Tag trägt, obwohl andere sie damit aufziehen. Sie ist schon außergewöhnlich, findet Anja und muss grinsen, ohne dass sie wüsste,
wieso. Damals hielt sie Jeanne für einen Freak, mit dem sie lieber nichts zu tun haben wollte. Aber eigentlich ist sie nur klüger und interessanter als der ganze Rest der Klasse. Falls die
Rothaarige sich tatsächlich in Jeanne verguckt haben sollte, könnte Anja es schon nachvollziehen. Wer mit Jeanne zusammenkommt, macht, wie es immer in Literaturklassikern heißt, eine gute
Partie.
Anja überlegt, ob sie einfach mal zu Jeanne hingehen sollte. Ausnahmsweise nämlich hängen ihr Ole und Lene gerade mal nicht am Rockzipfel. Vielleicht könnt sie Jeanne ja dazu überreden, mit ihr
gemeinsam die restlichen zwei Baracken vor dem Zellenbau zu besichtigen.
Kaki pfeift genauso die Lunge wie Aurich, und Aurich freut das sehr, weil, sie war heute immer irgendwo anders als er war, also immer da, wo er gerade nicht war, und das hat ihn tierisch angepisst. Manchmal dachte er schon, sie wär auf der Flucht vor ihm, aber offensichtlich ist sie es doch nicht; weil sonst würde sie ja schließlich nicht mit ihm rauchen. Bevor er sich eine ansteckt, schaut er, ob auch die Keblatt nirgendwo zu sehen ist. Er hat sich mit Kaki hinter diesem großen weißen Überbau gestellt, wo auch die Öfen stehen. Kaki sucht in ihrer Tasche nach Fluppen, doch Aurich ist schneller und spendiert eine, die er ihr auch gleich gentelmanlike anzündet. Sowas zieht bei Mädchen ja, weiß Aurich, wenn man zeigt, dass man der Mann ist, wenn man sagt, komm, lass stecken, ich übernehme das. Kaki grinst ihn an und bläst einen Schwall Rauch aus, was richtig fett aussieht, wie bei einem Model. Irgendwie weiß er jetze gar nicht, was er sagen soll, weil, Kaki sagt nichts, und das macht ihn irgendwie, keine Ahnung. Wo sind 'n Lucas und Robin? fragt sie ihn. Na, endlich sagt sie was! Aurich zuckt mit den Schultern, Keine Ahnung, die sind vielleicht noch hinten bei den Baracken. Welchen, fragt Kaki. Na, da wo auch die Klos drin sind und wo man die Betten hinter so ner Scheibe angucken kann. Is aber auch eh egal, Robin der Sack, weißte, was der über deinen Spitznamen gesagt hat? Kaki macht ein verwundertes Gesicht. Meinen? Nee, den, den du mir gegeben hast! sagt Aurich. Ach so, watt denn? Ja, keine Ahnung, der hat halt gemeint, warum heiß ich denn nicht Scheel, weil, man nimmt Vor- oder Nachnamen für Spitznamen, hat er gesagt. Und da hat Lucas ihm gesagt, dass er den Kopp zu machen soll, weil Aurich n saugeiler Spitzname ist. Kaki grinst wieder so süß und pustet den Rauch aus, Ja klar, hab ich mir ja auch ausgedacht.
Die Mädchen rund um Kaki blicken entsetzt auf den roten Fleck, der auf dem Boden zu sehen ist. Die einen sagen Oh Gott, die anderen halten sich den Mund zu und wieder andere tun beides.
Jeanne weiß, welcher Vermutung sie erliegen, hatte sie doch zunächst das gleiche gedacht: Blut.
Allerdings, wenn sie genauer darüber nachdenkt, so wirklich glauben kann sie es eigentlich doch nicht. Ja, ehrlich gesagt, hält sie es sogar für ziemlich unwahrscheinlich. Blut... wenn es so
wäre, müsste dann der Fleck auf dem Boden nicht bräunlich aussehen statt rot? Und überhaupt: Kann Blut in einen Betonboden einziehen und noch siebzig Jahre später sichtbar sein? Oh Gott, guck
doch mal hin, sagt Kaki, die mit dem Zeigefinger auf den mysteriösen Fleck deutet. Alle sollen es sehen, hier in diesem Leichenkeller, das angebliche Blut, die Hinterlassenschaft des
Massenmordes, das Stück Vergangenheit, das sich geradeso in die Gegenwart geschleppt hat.
Was auch immer das auf dem Boden ist; Jeanne weiß es zu schätzen, zum ersten Mal an diesem Tag ein wenig Ergriffenheit in den Gesichtern ihrer Mitschüler zu sehen; insbesondere nachdem Ole und
Lene bis jetzt ausschließlich damit beschäftigt gewesen sind, rumzublödeln und Witze zu machen. Ehrlich gesagt, hatte sie gar nicht damit gerechnet, dass ihre Freunde so desinteressiert sein
würden; dass es überhaupt Leute in ihrem Alter geben könnte, die kein Interesse für den Nationalsozialismus und den Holocaust aufbringen. Jeanne muss kurz überlegen. Da gibt es so eine
Redewendung - Ja, genau, sie hat, was die Wissbegierde und die Faszination betrifft, immer von sich auf andere geschlossen. Und nun sieht sie, zugegeben, mit einiger Verwunderung, dass man das
offenbar nie tun kann, ohne sich vielfach zu irren - selbst wenn es um den Holocaust geht.
Kaki kommt von dem Fleck nicht mehr los, sie geht einmal um ihn herum, wie um eine Sensation, die man von allen Seiten mustert, um sie sich einzuprägen und ein Stück weit zu eigen zu machen.
Ergriffenheit, assoziiert Jeanne. Da sind ihr Kaki und all die anderen, die ihre Oh-mein-Gott-Stimmung mitteilen, offenbar ein großes Stück voraus; denn bis jetzt macht alles, was sie bereits
gesehen hat, fast gar nichts mit ihr. In ihr tut sich eine Brache auf, die der hinter dem Eingangstor des Lagers ziemlich nahe kommt. Statt sich gefühlsmäßig dem vergangenen Unglück anzunähern,
ist Jeanne in der unerreichbaren Ferne steckengeblieben. Nicht einmal die hartnäckige Vorstellung, dass auf jedem Fleck, auf dem sie steht, einmal ein Toter gelegen hat, hilft ihr auf die
Sprünge. Frau Keblatt hat das heute früh nämlich in ihrer Ansprache gesagt, also dass auf jedem Fleck, auf den man tritt, mindestens ein Toter gewesen ist. Auf jedem Fleck, also auch auf diesem,
den Kaki und ein paar andere so entgeistert anstarren; vor allem auf diesem, ergänzt Jeanne in Gedanken, denn das hier ist ja der Leichenkeller. Ob das wirklich der original erhaltene
Leichenkeller ist oder nur eine Rekonstruktion? Dass hier einmal hunderte von Toten gestapelt lagen, kann sie sich beim besten Willen nicht vorstellen; bzw. kann sie sich nicht vorstellen, in
einem Raum zu stehen, in dem sich einst Ermordete getürmt haben. Wenn sie hier einmal eine Nacht verbringen müsste, fantasiert Jeanne und erschaudert prompt; da würde sie nur zusammengekauert in
der Ecke sitzen und in einer Tour schreien. Irgendwie ist ihr gerade danach, Ole mit ihrer Vorstellung zu konfrontieren. Oah, stell dir mal vor, du müsstest ne Nacht hier verbringen, sagt Jeanne,
ich würde das gar nicht aushalten, ich würd mir vor Angst in die Hosen scheißen. Echt? Ole grinst. Ich find's voll geil hier, hier ist es doch wenigstens schön kühl; würdest du mir nen Laptop,
nen Kaffee und ne Matratze hinstellen, könnte ich's hier locker n paar Tage aushalten.
Wie feige diese Frau ist, denkt Scheel, wenn man keine Argumente mehr hat, sich einfach dem Gespräch zu entziehen. Das ist charakterlos, aber auch typisch für die mitlaufenden Gedenkwahnsinnigen.
Da sagt sie doch, sie hätte nie von einem Sich-schuldig-fühlen-müssen gesprochen, und faselt dann gleich im nächsten Satz von historischer Schuld. Thaha, es tut ihm ja leid, aber das ist
einfach nur noch Comedy pur, ohne Worte. Wenn die Keblatt wenigstens die Courage gehabt hätte, die Diskussion zu Ende zu führen, wäre sie mal in den Genuss gekommen, mit ein paar Fakten
konfrontiert zu werden. Die Deutschen sollen also gedenken und sich schuldig fühlen? So so. Und was ist mit den Amerikanern und ihren Indianermorden, ihrer Sklaverei, ihren Atombombenangriffen
auf Hiroshima und Nagasaki oder dem Vietnamkrieg? Oder der Kirche und ihren Kreuzzügen und Hexenverbrennungen? Wo bleibt da bei denen das Erinnerungsdrama? Ist vom Erinnern eigentlich irgendwer
schon lebendig geworden oder warum sind alle so scharf darauf?
Dieses Land buckelt vor der Welt, ohne dass es jemanden interessieren würde, dass es genug andere Staaten und Institutionen gibt, die weitaus Schrecklicheres getan haben und weiterhin tun (nicht,
dass Scheel die Geschehnisse im 2. Weltkrieg verharmlosen will). Auf die sollte mit dem Finger gezeigt werden.
Mit Missbilligung beobachtet Scheel die Schüler, die sich die Überreste der Verbrennungsöfen anschauen müssen. Er fragt sich, was die Kinder davon haben. Entweder es interessiert sie einen
Scheiß, was er verstehen kann, oder es verstört sie zutiefst, was er auch verstehen kann. Ob nun so oder so: Es schreit einfach zum Himmel, dass die Kinder für den Extremismus der
Erinnerungsfanatiker herhalten müssen. Ja, ohne Frage: Extremismus ist ein großes Wort. Aber nichts anderes sind Keblatt und die ganze erbärmliche Gutmenschenbagage: Extremisten.
Mit ihrem Nazihass und ihrer Judenliebe sind sie unfähig, in andere Himmelsrichtungen zu schauen. Was hat die U.S.A. nicht bereits alles unter dem Deckmantel der Freiheit getan? Überall
angebliche Anti-Terror-Kriege, die lediglich den niederträchtigen Zweck verschleiern sollen, fremde Ressourcen unter die eigene Kontrolle zu bekommen. Und wie gut, dass man 9/11, wann immer
Bedarf besteht, heranziehen kann.
Scheel wartet nur auf ein 9/11 hier in Deutschland, das alle keifenden Moralisten in einen Krieg führt. Natürlich nur zum Schutz der Freiheit und der Demokratie. Wie Köter werden sie dem Pfiff
folgen, denn sie alle, ob sie nun Keblatt heißen oder Mustermann, sind ja durch und durch aufrechte Bürger.
Da spricht sicher nur die Paranoia aus Scheel, klar. Aber andere große Denker waren zu ihrer Zeit auch nur Ketzer; bis sich schließlich viel später herausstellte, dass die Erde nicht der
Mittelpunkt des Universums ist und auch keine Scheibe. Was zuvor über Jahrhunderte und Jahrtausende von Millionen von Menschen für wahr gehalten wurde, hat stets ein einzelner gewagt zu
hinterfragen und zu widerlegen. All das hat die Geschichte der Gesellschaft gezeigt. Und doch: Warum erinnert niemand daran? Warum wird nicht daran erinnert, dass ein einzelner Querdenker die
Welt verändern kann?
Es ist doch so: Wenn sich eins in der Geschichte unaufhörlich wiederholt, dann ist es zum einen der Krieg und zum anderen die Unterjochung Andersdenkender. Unbeachtet bleibt derweil, des Wertes
der Revolutionäre zu gedenken. Scheel sieht jedenfalls nirgends immer wiederkehrende und tausendfach gezeigte Kranzniederlegungen für Galilei, der, nebenbei bemerkt, die ganze Welt verändert hat,
indem er nicht dem Mainstream gefolgt ist. Für Scheel ist eine Uschi wie die Keblatt nichts weiter als eine manipulierte Dummbürgerin, Uni-Abschluss hin oder her. Denn zu logischen, neutralen
Denkprozessen ist die blöde Kuh doch gar nicht mehr fähig.
Scheel hat keinen Bock mehr, noch länger vor den mickrigen Überbleibseln der Verbrennungsöfen rumzustehen und so zu tun, als fände er das ganze Theater hier nicht vollkommen lächerlich. So macht
er sich aus dem Staub, damit auch die anderen merken, dass der Tag nur vierundzwanzig Stunden hat, und seinem Beispiel folgen. Als er an dem Erschießungsgraben vorbei geht, hört er zwei Frauen
hinter sich von Zeitzeugeninterviews quatschen. Ohne Pause müssen sie sich gegenseitig versichern, wie schlimm und erschütternd alles gewesen ist. Scheel kommt diese Faszination für das
Grauenerregende geradezu pervers vor. Wenn man dauernd hinschauen und sich damit beschäftigen muss, warum geht man nicht gleich in ein Seniorenheim und schaut alten Leuten beim Verrecken zu? Oder
wäre das den Weibern hinter ihm wieder zu nahe, zuviel Gegenwart? Ach, ist das eine kranke Welt, in der Scheel lebt. Er schaut auf die Uhr. Noch vier Stunden. Er kriegt die Krise.
Im Vorführraum stehen zahlreiche Stühle, die in Reihen angeordnet sind. Ein paar andere Jugendliche von anderen Schulen haben sich bereits einen Platz gekapert. Es ist laut, alle quatschen wild
durcheinander, albern herum und lachen, was Anja unmöglich findet. Frau Keblatt steht neben ihr. Anja ist danach, Frau Keblatt zu sagen, wie unmöglich sie den Lärm und das alles findet. Ich finde
das unmöglich, sagt Anja energisch und verschränkt die Arme. Was denn? fragt Frau Keblatt in einem mauligen Ton. Oha. Ist sie genervt von Anja? Stimmte wieder etwas mit der Aussage nicht? Hat sie
zu laut gesprochen? Etwas Falsches gesagt? Hitze steigt in ihrem Gesicht auf. Sie möchte schon gar nicht mehr auf die Frage antworten. Aber jetzt hat sie ja keine andere Wahl mehr. Na, wie die
hier alle Krach machen und rumgackern, wo hier so viele Menschen gestorben sind, antwortet Anja unbeholfen. Oh man, war das gerade grottig formuliert, denkt sie, wie von einem Klippschüler, so
eine Scheiße. Frau Keblatt nimmt ihre Antwort nur mit einem Ach so zur Kenntnis. Richtig vernichtend. Anja sucht sich einen Platz weit weg. Sobald sie sich auf einen Stuhl setzt, schaut
sie sich wieder im Raum um; aber alles, was sie sieht, erscheint ihr wie hinter Milchglas. Sie kriegt ihre Umwelt nur schemenhaft mit. Die Sache mit Frau Keblatt hat fast ihre gesamte
Aufmerksamkeit annektiert. Nicht nur wegen jetzt. Sondern vor allem wegen gestern. Da nämlich hat alles angefangen. Nach der Schulstunde mit Frau Kaufmann.
Als es zur Pause klingelte, trat Frau Keblatt an Anjas Tisch heran. Anja ging felsenfest davon aus, dass sie nun ein Kompliment erhalten würde für ihre Mitarbeit und ihr Wissen, das sie unter
Beweis gestellt hat. Doch statt Lob und Anerkennung gab es vollkommen unvorhergesehen eine Zurechtweisung. Frau Keblatt nämlich fand, dass Anja sich gegenüber Frau Kaufmann unhöflich verhalten
hatte wegen der Berichtigungen, und meinte, es wäre in erster Linie Besserwisserei gewesen. Anja konnte dazu erst einmal gar nichts sagen, sie war wie gelähmt, hatte sie doch schließlich mit
etwas ganz Anderem gerechnet. Aber so stehen lassen, wollte sie den Vorwurf Frau Keblatts auch nicht, und so rechtfertigte sie sich schließlich damit, dass ihre Einwände und Richtigstellungen
inhaltlich korrekt gewesen sind und Richtigkeit bei so einem bedeutungsvollen Thema wichtig sein sollte. Ich pflichtete dir bei, hätte Frau Kaufmann Räuberpistolen zum Besten gegeben, wichtige
Fakten unterschlagen und vertauscht oder Geschichtsrevisionismus betrieben, entgegnete Frau Keblatt, aber wenn es vorzugsweise um begrifflich unerhebliche Abweichungen geht wie
Schuhkommando und Schuhläufer-Kommando, ist es nur noch unnötige Haarspalterei und nicht gerade sehr erfürchtig gegenüber derjenigen, die in ihrer freien Zeit zur Schule kommt,
um der Klasse einen Einblick ins Lager zu geben.
Das war gestern. Und wie man soeben am Tonfall Keblatts und ihrer Reserviertheit erkennen konnte, scheint sie auch jetzt noch nicht gut auf Anja zu sprechen zu sein. Dabei hatte das Anja mit dem
Lärm doch nur gesagt, weil sie einen Schritt auf sie zugehen wollte, zeigen wollte, dass sie weiß, was sich an einem solchen Ort gehört und was nicht, und dass sie heute morgen bei der Ansprache
aufgepasst hatte. Keblatt ist zu hart zu ihr, um nicht zu sagen, gemein. Wenn sie auch nur halb so streng gegenüber den Kerlen in der Klasse wäre... die bauen nämlich tatsächlich wie am Fließband
Scheiße! Ach, egal, denkt Anja, sie wird einfach gar nichts mehr über den verdammten Holocaust sagen, wenn die Keblatt das glücklich macht, oder sich einfach gleich unsichtbar machen, damit alle
ihre Ruhe vor ihr haben.
Jetzt läuft der Film bereits seit gut zehn Minuten und sie hat ihn bzw. das, was die Off-Stimme gesagt hat, nur zur Hälfte mitbekommen. Frau Kaufmann sagte, der Film wäre ziemlich heftig und
würde einem den Magen verdrehen. Anja aber kann das nicht bestätigen. Eher im Gegenteil sogar, sie ist fast ein wenig, sie sagt mal, enttäuscht, dass so wenig zu sehen ist und dann auch
nichts anderes als das, was man ohnehin schon aus dem Geschichtsbuch kennt. Überhaupt war sie ziemlich ernüchtert, als sie durch das Lagertor gegangen ist. Frau Kaufmann hatte zwar erwähnt, dass
keine Baracken mehr stehen, sondern nur noch Gedenksteine mit den Nummern der Unterkünfte, aber trotzdem... so kahl hat Anja sich es einfach nicht vorgestellt. Bis auf diese Baracke und die, die
gleich rechts gegenüber steht, hat sie noch gar keine andere gesehen.
Der Film ist vorbei, der Raum wird hell, das Gequatsche geht sofort wieder los. Anja steht schnell auf, will wissen, ob das hier bereits alles gewesen sein soll. Sie schlängelt sich durch die
Stuhlreihe und begegnet Jeanne, die nur ein paar Plätze weiter rechts sitzt. Jeanne ist jetzt die Richtige, mit der kann man sich kurz über den Film austauschen. Und außerdem, mit Jeanne zu
reden, ist irgendwie immer sehr schön. Na, wie fandest du den Film, fragt Anja und grinst sie an. Jeanne bläst durch ihre Lippen und macht ein Gesicht, als wüsste sie nicht, was sie darauf
antworten sollte, Na ja, eh, nicht schön, schlimm.
Keblatt dirigiert die Klasse zur Häftlingswäscherei, in der der von Kaufmann angekündigte, ob seines Bildmaterials schwer verdauliche KZ-Film gezeigt werden soll. Neben ihr läuft unglücklicherweise Scheel, der bereits den ganzen Morgen einen Flunsch zieht. Nun könnte sie ihn natürlich teilnahmsvoll fragen, ob ihm etwas fehle; gleichwohl hegt sie erhebliche Zweifel daran, dass ihn echte Probleme umtreiben. Wahrscheinlich mokiert sich dieser Stammtischredner und Berufsidiot ja doch bloß über irgendeine Äußerung von ihr. Warum nur musste ausgerechnet er der einzige sein, der sich freiwillig für den Aufsichtsposten meldete? Er, der nicht mehr ist als der Schatten eines Gehirns, der den engagierten Über-Vater mimt, ohne zu merken oder sich auch nur dafür zu interessieren, dass sein vollkommen verzogener Sandkastendesperado Stefan Lehrerinnen unter den Rock fotografiert oder im Schrank einsperrt und mit kleptomanischem Eifer sämtliche seiner Mitmenschen bestiehlt. Sagen Sie, fängt Scheel unvermittelt zu sprechen an, nichts für ungut, aber finden Sie wirklich, dass man den Kindern suggerieren muss, sie hätten Schuld an das, was vor siebzig Jahren passiert ist? Na toll, denkt Keblatt, dass braucht sie heute unbedingt, einen unter Schuldparanoia leidenden Komm-mir-nicht-mit-Auschwitz-Nörgler. Nein, antwortet sie bloß. Scheel sieht sie verständnislos an, während Keblatt, um den Anschein der Gelassenheit und einen schnelleren Gang bemüht, geradeaus schaut. Wenn das so ist, fährt Scheel fort, aber genau das haben Sie heute in ihrer Ansprache gesagt. Keblatt hält das im Kopf nicht aus. Das Wort Schuld habe ich nicht mit einer Silbe erwähnt, Herr Scheel. Nein, natürlich haben Sie das nicht öffentlich geäußert, sag ich mal, erwidert Scheel mit einem dämlich schiefen Grinsen, ich habe das zwischen den Zeilen herauslesen können. Keblatt wäre danach, süffisant zu grinsen; sagte sie es nicht: Schuldparanoia. Mit Verlaub, Herr Scheel, es sollte aber immer noch der Unterschied zwischen dem Wortwörtlichen und der eigenen Interpretation berücksichtigt werden. Ich möchte darauf hinweisen, dass Interpretationen vieles sein können, von abwegig bis sehr naheliegend geht da alles; allerdings sollte doch nicht aus den Augen verloren werden, dass Deutungen, und nicht mehr und nicht weniger stellt Ihr erwähntes Zwischen-den-Zeilen-Lesen dar, niemals Tatsachen sein werden. Scheel ist das dämlich schiefe Grinsen nunmehr vergangen. Also, erst mal, beginnt er, laut werdend, haben Sie mich hier auf nichts hinzuweisen, Sie sind nicht, falls Sie das nicht auf dem Schirm haben sollten, meine Lehrerin, Punkt Nummer eins. Mein Gott, warum habe ich mich überhaupt auf eine Diskussion eingelassen, tadelt Keblatt sich selbst, wenn dieser Synapsenfriedhof nicht gleich die verdammte Klappe hält, wird er es noch sein, und nicht sein missratener Sohn, der mich in Verlegenheit bringt. Punkt Nummer zwei, ich vertraue einfach meinem gesunden Menschenverstand und erkenne die Propaganda des Mainstreams. Obwohl Keblatt weiß, dass sie den Mund halten müsste, um einer eventuellen Eskalation aus dem Weg zu gehen, kann sie es nicht lassen: Das verstehe ich nicht, Sie sagten, Sie hätten etwas zwischen meinen Zeilen gelesen und sprechen dann von Propaganda. Propaganda steht für gewöhnlich aber nicht zwischen den Zeilen. Scheel gibt sich einen Klapps auf den Schenkel, Können Sie bitte aufhören mit ihrem Lehrergetue? Ich bin ein erwachsener Mann, also haben Sie gefälligst Respekt. Nun gebietet es sich aber allmählich doch, auf die Bremse zu treten, sieht Keblatt ein. Entschuldigen Sie, Herr Scheel, es sollte nicht wie Besserwisserei aussehen, das ist überhaupt nicht mein Ansinnen. Es geht doch eigentlich nur um Folgendes: Sie befürchten bzw. glauben, ich möchte den Schülern vermitteln, sie sind Schuld an den NS-Verbrechen. Das ist aber ganz sicher nicht meine Absicht, nicht zuletzt, weil dahinter eine Absurdität steckt, die mir einfach nicht zu eigen ist. Was ich tatsächlich meine, ist eine, ich sag mal, historische Verantwortung, der man als Deutsche bzw. Deutscher nachkommen sollte. Dazu zählt für mich die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, die Initiative gegen das Vergessen und der Widerstand gegen alles, was sich als menschenverachtend und volksverhetzend zu erkennen gibt. Um künftige, sich auftuende gesellschaftliche Abgründe verhindern zu können, muss sich mit den alten unermüdlich beschäftigt und aus ihnen gelernt werden. Finde ich jedenfalls. Aber nun, Keblatt bleibt kurz vor der Häftlingswäscherei stehen und wendet ihren Blick zur Klasse, die nachkommt, lassen Sie uns das Gespräch vertagen, jetzt ist es gerade ungünstig.
Wahnsinn, auf einmal auf dieses Eingangstor zuzugehen, das man bisher immer nur von Fernsehdokus und Schwarz-Weiß-Bildern her kennt, findet Jeanne. Und durch dieses Gebäude sind die Häftlinge
also regelmäßig ein- und ausgegangen, versucht sie sich vorzustellen und in eine Zeit hineinzuversetzen, die nicht die ihre ist. Heute möchte Jeanne die ganze Intensität des Einfühlens erleben,
ein Gespür dafür bekommen, wie es hier wohl gewesen sein muss. Zuhause konnte sie das schon immer ganz gut eigentlich, also zumindest glaubt sie das. Es ist so: Daheim oder auch sonst im Alltag
stellt sie sich oft vor – so ein bisschen wie in einem Film, Schindlers Liste zum Beispiel oder Der Pianist – in einem Ghetto, genauer gesagt im Warschauer Ghetto, zu sein und
später ins Vernichtungslager deportiert zu werden. Ursprünglich dachte sie dabei natürlich immer an Auschwitz. Aber dann hat ihr Anja einmal gesagt, dass die Deportationszüge des Warschauer
Ghettos in erster Linie nach Treblinka fuhren, und dass es in Treblinka anders als in Birkenau nicht sehr viele Häftlingsbaracken gab, weil so gut wie alle, egal ob arbeitsfähig oder nicht,
sofort nach der Ankunft vergast worden sind. Und das hat dann Jeannes Vorstellung kaputt gemacht, weil sie ja, auch wenn die Gedanken frei sind, schon den Anspruch auf Realität und Faktentreue
hat. Aber worauf sie eigentlich hinaus will: Sie hat da immer so einen regelrechten Film laufen, taucht, ja, man kann sagen, in solchen Fantasien ab, bis sie sich irgendwann so massiv rein
gesteigert hat, dass sie in so einer Drittes-Reich-Ghetto-Judenstern-Deportations-Vernichtungsstimmung ist und mithin nachts, wenn alle bereits schlafen, nicht mehr aufs Klo gehen kann wegen der
ganzen unheimlichen Bilder im Kopf.
Mag sein, dass Jeannes Vater gar nicht mal so Unrecht damit hat, wenn er sagt, sie beschäftigt sich zu sehr mit den ganzen Berichten und Bildern. Andererseits, sie kann's auch nicht mal so eben
abstellen, das Interesse ist einfach stärker, dagegen kommt sie nicht an, oder vielleicht doch, aber dann ist es eben der Wille, der fehlt, um dagegen anzukommen.
An diesem denkwürdigen Ort möchte sie der damaligen Stimmung noch näher kommen, als es ihr bisher mit Bildern, Berichten, Artikeln, Filmen und Dokus gelungen ist, sie möchte die Entfernung
überwinden, greifen können, einen Kontakt herstellen, in Beziehung gehen.
Alle laufen jetzt nacheinander durch das Tor, das Berühmt-berüchtigte. Es steht offen; allerdings geht man nicht durch die kleine Arbeit-macht-Frei-Gittertür hindurch, sondern durch das
rechtsseitig geöffnete Gittertor, das drum herum ist – Jeanne weiß jetzt nicht, wie sie das besser beschreiben soll. Nur im Vorbeigehen werfen ihre Mitschüler einen Blick auf die Toraufschrift.
Einige kommentieren sie zwar, aber keiner – mit Ausnahme von ihr und Frau Keblatt – hat den Impuls, einen Moment stehen zu bleiben, um sie sich näher anzusehen oder gar mit den eigenen Händen
anzufassen. Dass selbst Anja, die eine Koryphäe in Sachen Shoa ist oder sich zumindest als eine solche bezeichnet, keinen Anreiz verspürt, anzuhalten, um das Tor auf sich wirken zu lassen,
verwundert Jeanne, ehrlich gesagt, doch ziemlich. Immerhin, soweit sie sich erinnern kann, ist Anja auch noch nie in einer KZ-Gedenkstätte gewesen.
Vor dem Eingang stehend, versucht Jeanne in die Zeit zurück zu reisen, sich einzufühlen, hineinzuversetzen. Frau Keblatt, die neben ihr steht mit hinter dem Rücken verschränkten Armen, merkt
betroffen an, So ein kleines Tor und soviel Leid dahinter. Jeanne sagt nur ja, weil ihr spontan nichts anderes einfallen will. Nun steht sie hier, vor dem Ort des Geschehens, und spürt
nichts Besonderes in sich aufwallen. Möglicherweise aber ändert sich das auch schlagartig, wenn sie erst mal einen Fuß hineinsetzt.
Scheel muss aufpassen, dass er heute nicht noch die Contenance verliert. Zunächst einmal diese theatralische Ansprache Keblatts, in der es im Subtext eigentlich nur mal wieder hieß, dass die
Deutschen die ewigen Bösen sind, für immer Schuld tragen sollen, egal, wie lange es her ist, und zu gedenken haben, bis die Erde nicht mehr existiert – und wahrscheinlich sogar noch darüber
hinaus! Er kann das alles nicht mehr hören. Immer dieses Duckmäuser-Gebaren! Und dann wird auch noch geglaubt, dass das alles richtig ist. So sehr, dass man früher oder später auch damit anfängt,
diesen Gedenkwahn zu propagieren und denjenigen Schuldgefühle einzuimpfen, die sich das nicht gefallen lassen. Vorher aber wird natürlich noch schön beleidigt. Zeigt man den Leuten, die von
Erbschuld sprechen, den Vogel, fangen sie ausnahmslos an, einen zu beschimpfen. Immer schön unter die Gürtellinie, und das gerade von denen, die doch angeblich so viel besser sind. Dieses
versiffte Gutmensch- und Dummbürgergesindel! Kann man den Kindern so etwas beibringen? Beibringen, dass sie Schuld haben an etwas, das lange vor ihrer Geburt stattgefunden hat?
Und dann, wie sie, Keblatt, auch noch versucht, total betroffen zu beschreiben, was im Lager passiert ist. Das ist absolute Manipulation, nicht mehr und nicht weniger! Natürlich ist es schlimm,
was damals passiert ist; aber irgendwann muss auch mal Schluss sein, mit dem Finger drauf zu zeigen.
Aber damit nicht genug; da verbietet sie den Kindern doch tatsächlich, im Lager zu rauchen. Angeblich, weil das respektlos gegenüber den Opfern wäre. Scheel stellt sich vor, Keblatt
gegenüberzustehen: Kuckuck, wie soll man, bitteschön, jemandem gegenüber respektlos sein, der schon lange tot ist? Mein Gott, die sind alle unter der Erde bzw. verbrannt. Das ist doch einfach nur
affig, sich so aufzuführen, als würden die das merken, wenn da irgendwer eine Zigarette raucht oder mal auf den Boden spuckt. Tauben werden schließlich auch nicht abgeknallt, wenn sie im Flug
einen Schiss fliegen lassen, der auf den ach so heiligen Lagerboden landet, oder, noch schlimmer, aufs Dach des Eingangsgebäudes.
Was Scheel betrifft, so dürfen die Kinder ruhig in seiner Anwesenheit rauchen. Ja, er wird ihnen sogar Feuer geben! Einfach, um ein Zeichnen zu setzen! Widerstand zu leisten! Er nimmt das auch
alles auf seine Kappe, sollte die Keblatt Zicken machen. Wie soeben, als sie Lucas gescholten hat, weil er, ach du meine Güte! auf den Boden gespuckt hat. Was hat die dem Bengel eine Szene
gemacht, Scheel war nur noch nach Kotzen zumute, so angewidert, wie er von ihrem überzogenen Gutmenschengetue war. Das hätte die Keblatt mal mit Stefan machen sollen, dann hätte er die Frau
gleich zur Seite genommen und so klein mit Hut gemacht. Überhaupt, wie sie mit Lucas geredet hat, durch und durch pseudointellekuell mit ihren ganzen Fremdwörtern. Was hat die nochmal gesagt?
Rudi...irgendwas und dann Sputnik oder so ähnlich. Jedenfalls irgendwas, was kein normaler Mensch versteht oder sagt. Das ist aber typisch für die ach so überlegenen Akademiker, für die
verkommene Elite: dieses Wortgewichse, diese Arroganz. Die halten sich allesamt für die Schlausten und Tollsten, weil sie studiert haben und große Gehälter kriegen, ohne sich beim Arbeiten die
Hände schmutzig zu machen. Dafür aber, zu merken, dass sie in Wirklichkeit nur dem Mainstream folgen und armselige indoktrinierte Mitläufer sind, sind sie wiederum zu doof, trotz Abi und
Uni-Abschluss.
Scheel fragt sich, wie lang die dämliche Lagerstraße eigentlich noch ist, und möchte am liebsten, Na, endlich! hinausschreien, als es nach links geht, zum Eingangstor.
Aurich könnte kotzen. Während des ganzen Tages keine Lungenbrötchen. Er versteht nicht, wo das Problem ist. Hat die Keblatt Sand in der Muschi? Als er sie fragte, Und wenn man die Kippen danach
einsammelt? pampte die Alte ihn so an, dass das kein Unterschied macht. Wenn die blöde Kuh denkt, dass er sich während der ganzen scheiß Zeit keine anzündet, hat sie sich geschnitten. Er ist
Raucher, leidet unter einer Sucht, da kann sie nicht mit so einem Scheiß ankommen. Lucas fickt das genauso an. Ist das ein Piss, Alder, die Alte hat doch echt ne Macke, sagt er und rotzt laut auf
den Boden. Aurich bewundert, was das mal wieder für eine lange Line ist, wie als hätte wer ordentlich abgespritzt. Das schafft nur Lucas. Jetzt geht Aurich das Abspritzen nicht mehr aus dem Kopf,
wäre das schön, wenn er sich jetze einen über die Alpen schleudern könnte. Er merkt schon richtig, wie er oberhalb der Gürtellinie blutleer und seine Unterhose zum Zelt wird. Gut, dass er ne
Baggy anhat. Ich werd trotzdem rauchen, sagt Aurich, der sich schnell, wie er findet, auf andere Gedanken bringen sollte, Das kann die vergessen, dass ich die ganze Zeit an meinen Fingern rumkaue
und blöd durch die Gegend latsche.
Auf einmal sieht Aurich Keblatt an sich vorbei flitzen und ihm geht der Arsch auf Grundeis; jetze macht sie ihn bestimmt zur Sau wegen dem, was er gerade gesagt hat. Doch dann stellt sie sich gar
nicht vor ihm, sondern vor Lucas und sieht dabei so richtig angefressen aus, Sag mal, geht dir jedwedes Gefühl für Anstand ab? Hast du nicht mal ein rudimentäres Verständnis von Achtung? Aurich
versteht gar nicht, was hier gerade abgeht. Lucas auch nicht. Hä, watt denn, ick hab doch ja nich jerocht! Tatsächlich, du hast so etwas nicht, sagt die Keblatt, Was frage ich dich überhaupt.
Heb' dir dein Sputum für die Bushalte auf, wo du jeden Nachmittag breitbeinig nach der Schule rumhängst, und hör auf, die Lagerstraße vollzurotzen! Damit entwertest du nicht nur die Opfer, die
hier lang marschiert sind, sondern du rückst auch die ganze Klasse in ein zweifelhaftes Licht! Meine Fresse, hat die Alte ihre Tage, oder was? wundert sich Aurich. Lucas ist jetze richtig
angepisst und stöhnt, Ja, is ja jut, Alter! Nicht Alter, sondern Alte, sagt Keblatt mit einem ekelhaft arroganten Blick und zischt wieder ab. Einen kurzen Moment sagt niemand was. Irgendwie hat
diese Situation gerade Aurich den Wind aus den Segeln genommen. Und Lucas ebenso, weil, der sagt ja auch nix. Dann aber schüttelt er den Kopf und sagt, was Aurich sich auch schon gedacht hat, Die
Alte muss mal wieda ordentlich jeknallt werdn."
PHASE 2
Bis jetzt haben sich noch keine Pannen ereignet, die einen unglücklichen Tagesverlauf verheißen könnten. Alles, was gut gehen konnte, ging bisher gut. Keine Abwesenden, kein Scheißwetter, keine
Zugverspätung, kein Schienensuizid, kein Verirren. Ja, es gab noch nicht einmal großartiges Gezeter, als Keblatt die Klasse mit der Um-ein-Haar-Hiobsbotschaft überfiel, dass vom Bahnhof bis zum
Lager ein zwanzigminütiger Fußmarsch ansteht. Indes, noch ist nicht aller Tage Abend. Alles kann ja noch passieren, sich beschämend und ärgerlich entwickeln. Keblatt ist unter Spannung wie ein
Elektrozaun. Sollte auch nur einer ihrer überreizten Adoleszenzquälgeister Aufsehen erregen durch Geschmacklosigkeiten, wird er unweigerlich einen verpasst bekommen. Oh ja.
Kurz vor dem Besucherzentrum hält Keblatt mit den Jugendlichen an. Manche von ihnen starren erwartungsvoll auf die mit großen Lettern überzogenen Wände: Gedenkstätte und Museum
Sachsenhausen. Ein erbaulicher Anblick, findet Keblatt, wenigstens ein paar der Mädchen und Jungs lassen Neugier und Interesse erkennen. Fast möchte sie ihnen dafür eine Eins geben.
Andere dagegen – oder besser gesagt: der Rest - treten unruhig auf dem Fleck, stecken sich Zigaretten in die Guschen und reden über Dinge, die ihr Teenager-Orbit bewegt. Während Keblatt die
rauchenden Halbwüchsigen beobachtet, kommt ihr unvermittelt der gruselige Gedanke, dass sich jene auch im Lager eine anstecken könnten; an einem Ort, wo Menschen rund um die Uhr in Krematorien
verbrannt wurden. Aufgescheucht von dieser Horrorvorstellung, beschließt Keblatt eine kurze Ansprache vor ihrer unberechenbaren Meute zu halten.
Keblatt ist überrascht, wie sittsam und ruhig es bisher zugeht. Selbst von Stefan, Robin und Lucas, den nach Stimmbruch lechzenden Vorhautfummlern, sind noch keine Zwischenrufe gekommen. Wüsste
sie es nicht besser, beliebte sie beinahe von einem tatsächlichen Interesse ihrer Schüler auszugehen. Aber was sollen die Konjunktive. Es ist doch im Grunde klar, dass es den Bälgern weniger um
die NS-Verbrechen und die anstehende Exkursion geht, als um die bloße Tatsache, dass die von ihnen hoch anerkannte Geschichtenerzählerin vorne steht und referiert wie anno dazumal im
Deutsch-Unterricht. Keblatt grinst: Noch nicht einmal alt genug, um Mofa zu fahren und schon jetzt der Vergangenheit hinterher trauern, na toll.
Dann gab es das Schuhkommando, berichtet Kaufmann, das auch nicht mehr und nicht weniger war als eine Strafe für die Häftlinge. Anja reckt unvermittelt ihren Zeigefinger in die Höhe, schüttelt
ihn erbittert und beugt sich beinahe über die gesamte Bank, als wollte sie wie ein Besoffener über eine Balustrade kotzen. Mein Gott, Mädchen, wir sehen dich schon, denkt Keblatt. Nun ist es
bereits die dritte Wortmeldung, mit der Anja Frau Kaufmann unterbricht und zu berichtigen gedenkt. Keblatt kann es kaum mitansehen und fühlt sich nahezu mitverantwortlich, dass ihre erlauchte
Kollegin im Ruhestand mit der Profilneurose einer insgeheim hoffnungslos an sich zweifelnden Besserwisserin konfrontiert wird. Kaufmann aber scheint es wie die beiden Male zuvor gelassen zu
nehmen und erteilt Anja das Wort. Ich wollte nur sagen, eigentlich heißt es Schuhläufer-Kommando, das im Lager eingesetzt wurde, um auf der Schuhprüfstrecke Schuhe testen zu lassen, sagt Anja,
ihr Wissen darbietend, aber wie Sie schon sagten, es war eine Strafabteilung, innerhalb derer täglich etwa um die zehn bis zwanzig Häftlinge starben, weil sie kaum zu Essen hatten und unter
schwerem Gewicht kilometerlange Strecken laufen mussten. Getuschel erklingt. Wahrscheinlich zerreißen die sich hinten schon das Maul, spekuliert Keblatt und schaut zu Kaufmann, die mit
bewundernswerter Abgeklärtheit anmerkt, Na, Anja, jetzt hast du mir wieder ein Stück Arbeit abgenommen.
Einige Schüler und Schülerinnen haben bereits vor der Stunde Kaufmann abfangen und ein Gespräch aufschwatzen können. Es gibt niemanden, dem nicht die Freude ins Gesicht geschrieben steht
anlässlich des Besuchs dieser einstigen Pyramide von Kompetenz und Anziehungskraft. Kaufmann ist auf diesem Gymnasium das, als was die Ostampelmännchen, Robo Cop oder auch der Wackeldackel
heutzutage gelten: Kult - oder auch, wie Keblatt es treffender zu formulieren geneigt ist, Projektionsfläche für therapiebedürftige Nostalgiker. Sie fragt sich, ob aus ihr auch ein Ziel der
Vergötzung und Anbiederung geworden wäre, wenn sie ein paar unterhaltsame Lehreranekdoten zum Besten gäbe, respektive könnte. Keblatt schließt das Klassenzimmer auf und lässt die in Sopran und
Falsett durcheinander quatschende Schülermurkse rein. Mit Anekdoten ist einem ohnehin das Entzücken der Welt, ach was, des Kosmos! sicher, nimmt sie ihren Gedanken wieder auf, da könnte man sogar
ein lebendes Huhn anzünden oder ein Schnupsel geheißenes Robbenbaby tot beißen; das ist alles vergessen oder wenigstens halb so wild, solange man sich durch Anekdoten profilieren kann. Keblatt
schwenkt ihren Kopf zu Kaufmann, die sich an der Tür mit Stefan unterhält, und versucht sich vorzustellen, dass diese Ehrerbietung generierende Lehrerin a.D. einen geheimen, für andere nicht zu
betretenden Keller hat, in dem sie verstohlen herzzerreißend niedlichen Tierbabys sadistische Praktiken zumutet. Es klappt nicht. Diskret schüttelt Keblatt den Kopf. Wer könnte schon dieser durch
und durch beschlagen, reaktionssicheren, mit feinem Witz sprechenden Ruheständlerin etwas andichten, das vor dem Hintergrund psychiatrischer und juristischer Relevanz steht? Egal. Sie ruft die
Klasse zur Ordnung, die sich nach dem Leitbild von Zellen geteilt und im Raum gruppiert hat, und eröffnet die Stunde schließlich damit, sobald auch der letzte auf seinen vier Buchstaben sitzt,
Kaufmann offiziell zu begrüßen. Es wird unvermittelt totenstill. Das kennt Keblatt von ihrer Klasse gar nicht. Kaufmanns bloße Gegenwart flößt allen Respekt ein.
Ja, hallo … Da sieht man sich mal wieder, beginnt Kaufmann, ich freue mich heute sehr, euch wiederzusehen, das ist ja auch schon wieder zwei Jahre her. Pause. Ich hab' gehört, ihr seid jetzt bei
Frau Klefoth? Allgemeines Stöhnen und Gekicher ertönt. Ja, leider! ruft Stefan. Nanu, jetzt übertreib mal nicht, sagt Kaufmann und kann sich ein Grinsen kaum verkneifen, Frau Keblatt hat mich
angerufen und darüber informiert, dass ihr zur Gedenkstätte Sachsenhausen reist. Soweit ich weiß wohl deshalb, weil es im Naturkundemuseum gebrannt hat. Die in den hinteren Reihen befindlichen
Bockwurstverkäufer in spe Schrägstrich Lucas und Robin lachen vor sich hin. Als sich etwa die Hälfte der Schüler zu ihnen umdreht, sagt Lucas, Jo, die Hells Angels waren's, wurde Frau Keblatt
jesacht. Nun kriegt sich Robin vor Lachen nicht mehr ein. Gott sei Dank, finden das nicht alle komisch, denkt Keblatt, die ihren Blick durch die größtenteils schweigende Klasse schweifen lässt.
Na ja, es ist ja allseits bekannt, dass kleinstädtische Naturkundemuseen ein Eldorado für Drogen- und Waffenhändler sind, merkt Kaufmann mit einem Grinsen an und bringt damit auch die bisher
lautlos Gebliebenen zum Lachen, aber gut; jedenfalls rief mich Frau Keblatt an, weil sie wusste, dass ich mich in der Gedenkstätte auskenne; ich habe mit vielen Klassen Exkursionen nach
Sachsenhausen unternommen. Eigentlich wollte Frau Keblatt erreichen, dass ich mitkomme, um euch durchs Lager zu führen, und ich hätt's auch wirklich gerne gemacht, aber es geht gesundheitlich
leider nicht. Die Blicke aller richten sich auf Kaufmanns rechte Hand, die sie - wie damals und nahezu schon aus Gewohnheit - mit der Linken festhält, um den Tremor im Zaum zu halten. Um es
vorwegzunehmen, spricht Kaufmann, die das neugierige Glotzen natürlich registriert, mir geht es, seit dem ich in Rente bin, immer noch gut, das Zittern beschränkt sich nach wie vor auf den
Mittelfinger. Dass ich nicht mitfahren kann, liegt also nicht an meiner Parkinson-Krankheit, sondern an meinem Fuß. Ich bin dieses Wochenende umgeknickt und kann seitdem nicht vernünftig
auftreten. Das ist schade, aber deshalb bin ich heute hier, um euch ein bisschen vom Lager zu erzählen und was man so zu sehen bekommt.
Du beschäftigst dich zu sehr mit so schwerer Kost, merkt Jeannes Vater an, der am Herd steht und die Sauce anrührt. Es klingt fast wie eine Kritik. Jeanne verteidigt sich, Ich habe mir ja nicht ausgesucht, dass wir nach Sachsenhausen fahren. Außerdem stimmt das so ja auch nicht. Sie setzt sich an den Küchentisch und schaut ihrem Vater beim Rühren zu. Ja, okay, aber das habe ich ja auch nicht gesagt, wendet derselbe ein, Ich meine nur, dass du, seit dem das feststeht, wieder von nichts anderem mehr redest als von Vergasungen, Leichenbergen und wandelnden Halbtoten. Du sagst, es macht dir Angst und guckst dir dann dauernd solche Bilder an. Das verstehe ich, ehrlich gesagt, dann immer nicht so wirklich. Nein, protestiert Jeanne, ich gucke mir nicht nur Bilder an, ich lese vor allem auch Artikel bei Wiki oder sonst wo. Der Vater lacht, Okay, und du liest halt noch Artikel im Internet dazu. Das widerlegt aber jetzt nicht, was ich sage, Mäuschen, merkste? Ich finde das halt einfach, Jeanne sucht nach Worten, … keine Ahnung; irgendwie bewegt mich das immer wieder, weil das total heftig ist. Warst du schon mal in Sachsenhausen? Der Vater wechselt mit einer Plastikschale in der Hand zur Spüle und dreht den Wasserhahn auf, Ja. Ich war auch in Ravensbrück und in Buchenwald. Echt, alle drei? Jeanne ist erstaunt, dass ihr Vater das bisher noch nie erwähnt hat. Allerdings ist es auch typisch für ihn. Stellte man ihm keine Fragen und bohrte man nicht etwas nach, spräche er nur über die Dinge, die gerade passieren. Insgeheim bedauert Jeanne dies immer ein wenig, gibt es doch eigentlich viel Interessantes, worüber er erzählen könnte. Ja, bestätigt der Vater, in Ravensbrück hatte ich sogar meine Aufnahme in die FDJ. Aber doch nicht auf dem KZ-Gelände selbst, oder? hakt Jeanne ungläubig nach. Der Vater kehrt zum Herd zurück. Na ja, ja, doch, natürlich auf dem Gelände. Die Lager waren in der DDR häufig Orte für zeremonielle Veranstaltungen. Jeanne schüttelt Kopf, als wollte sie sich ihrer Verwirrung entledigen, Aber was hat denn die FDJ mit Konzentrationslagern zu tun? Wo ist denn da ein Zusammenhang? Hä? Der Vater stellt den Herd aus und gießt die Kartoffeln ab, Na, der Schwerpunkt im Geschichtsunterricht und bei solchen Ausflügen lag immer auf dem Kommunismus und auf die politischen Opfer. Du brauchst da jetzt nicht denken, dass da viel über die Juden gesprochen wurde. Im Grunde waren die überhaupt kein Thema. Ohne sich bitten zu lassen, steht Jeanne auf, um den Tisch zu decken, Also war das im Grunde nur … na, wie sagt man … Propaganda? Der Vater bejaht. Aber wurden die jüdischen Opfer wirklich so gar nicht erwähnt? Nee, weil, das war halt eine ganz ideologische Geschichte, antwortet der Vater, es ging primär um die Opfer auf kommunistischer Seite; die Juden und die Lager im Osten, davon erfuhr man nur ganz wenig. Man muss dazu sagen, dass Juden auch im Kommunismus kein allzu hohes Ansehen hatten; nicht zuletzt, weil die Kommunisten beim Nahostkonflikt hinter Palästina standen. Mit Palästina war man ganz dick. Jeanne weitet die Augen, was, ernsthaft? Ja, Arafat, das war der allerbeste Freund hier im Osten, entgegnet der Vater. In seiner Stimme hallt Spott. Und waren die Juden dann quasi auch im Kommunismus ein Feindbild? fragt Jeanne. Der Vater stellt die Emailletöpfe auf den Tisch, Das kann man so nicht sagen. Also es gab schon so eine Art Missbilligung, aber man bezog das nicht auf die Religionszugehörigkeit, sondern nur auf den Staat Israel – zumindest hat man das behauptet.
Dass es so unerwartet nach Sachsenhausen geht, findet Anja erfreulich. Wen wollte Frau Keblatt auch mit dem Naturkundemuseum verarschen? Sachsenhausen, das sind doch mal wirklich gute
Nachrichten. Vielleicht lernen die anderen dann auch mal den Unterschied zwischen den Begriffen Konzentrationslager und Vernichtungslager kennen. In einem Konzentrationslager gab es keine
Vergasungen, die Menschen wurden durch Arbeit, Hunger und Krankheit vernichtet. Bei einem Vernichtungslager dagegen wurden die Leute nicht erst zur Arbeit geschickt, sondern gleich nach Ankunft
in die Gaskammern geführt. Anja geht jede Wette ein, dass nicht einer aus der Klasse das weiß. Aber alle denken sie, sie kennen sich aus. Das sind ohnehin die Schlimmsten: Leute, die mal ne Doku
gesehen haben und sich danach so aufführen, als wären sie Experten. Neulich auf dem Schulhof hat Lucas doch zu Stefan gesagt, Ab mit dir nach Buchenwald unter die Dusche, Jude! oder so ähnlich.
Daraufhin hat sie diesem Blödmann erstmal erklärt, dass in Buchenwald keine Menschen vergast worden sind. Dann sagte er so, natürlich wurden da Menschen vergast, das ist doch ein
Konzentrationslager. Anja wollte sich schon an den Kopf fassen. Nein, sagte sie, es wurden hundertprozentig keine Häftlinge in Buchenwald vergast, weil es ein Konzentrations- und kein
Vernichtungslager gewesen ist; die Konzentrationslager wie Sachsenhausen, Ravensbrück, Buchenwald, Neuengamme, Bergen-Belsen und so weiter waren nicht zur Massenvernichtung bestimmt, sondern die
Lager im Osten wie Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Belzec und Chełmno; das lässt sich auch an den Opferzahlen erkennen, gab Anja anschließend zu bedenken, weil die bei einem KZ wesentlich geringer
gewesen sind als in Vernichtungslagern. Der Vollständigkeit halber aber musste sie jedoch hinzufügen, Zugegeben, es gab einige KZs mit Gaskammern, die auch mal in Betrieb genommen wurden; aber
die waren im Vergleich winzig und nur unregelmäßig benutzt worden. Als Anja im Begriff war, die Lager zu nennen, in denen Gaskammern installiert gewesen waren, fiel ihr Stefan der Proll ins Wort,
Boaah, Alter, texte andere voll, Klugscheißerin, und geh kacken, dir hört doch schon gar keiner mehr zu.
*
Anruf Kaufmann. Sie unterbreitet das Angebot, einen Tag vor der Exkursion in der Schule zu erscheinen und der Klasse vom Lager zu erzählen; sozusagen als Äquivalent für eine persönliche Führung
durch die Gedenkstätte. Keblatt sagt ohne zu zögern zu.
Lucas und Robin kann er das erzählen, befindet Aurich und klopft sich in Gedanken wie Clint Eastwood auf die Brust, die sind seine Männer, die verstehen das. Wahrscheinlich wissen die das eh
schon von ihren Alten: diese ganze Schuldscheiße von den dummen Amis und diesen beschissenen Zionisten. Lucas, der Hund, sitzt auf der Lehne einer Bank mit Bierpulle zwischen der Spaßzone und
rotzt nen kautabakmäßigen Strahl auf den Boden. Jerescht is dit nich. Er macht eine kurze Pause und ergänzt dann, Is eingentle wirklich so, der Scheiß, Alder. Wusste Aurich es doch, Lucas
versteht's, is halt sein Mann. Robin grinst rum, wie er eben immer rumgrinst, Robinlike einfach, und er lacht, was Aurich gleich ansteckt, weil die Lache eben einfach zum Wegschmeißen ist. Das
bleibt jetzt unter uns, ja? fordert Aurich die beiden auf, ich hab gestern mit meinem Vadder gesprochen, weil, der kennt sich damit eh echt gut aus, und das ist doch echt die Verarsche, dass
Deutschland gesagt bekommt von wegen Schuld, wo, überlegt mal, die Amis, Alter, mit den Sklaven und den Indianern, weil, ey, bei den Indianern, da sind insgesamt über Hundertmillionen... -
tausend gestorben. Robin lacht sich den Arsch ab, Wat, Hundertmillionentausend? und hört gar nicht mehr auf, der Sack. Nee, echt, du musst dir mal wirklich reinziehen, wie viel Indianer von den
Amis gekillt wurden, hält Aurich dagegen, sauviele waren das, kein Scheiß, musste mal meinen Vadder fragen. Lucas, sein Bester, bestätigt ihn, Ja, natürle ham die viele jekillt, Alder, die ham da
och nischt anbrennen lassen. Oder die Russen, Alder. Aurich springt von der Bank auf und macht ein ganz aufgeregtes Gesicht. Genau, die Russen, Stalin, da gab's auch Konzentrationslager, Stalin
und die Amerikaner sind genauso schlimm wie Hitler! Aber Deutschland hat den Krieg verloren, deshalb, nur deshalb. Robin sagt nichts und guckt bloß. Warum sagt er denn nichts? Aurich schaut ihn
fragend an. Und wieso sollet jetz unter uns bleiben? will Lucas wissen und rotzt nochmal so ne schöne Line auf den Boden. Na, weil de dann gleich ein Nazi bist, klärt Aurich seinen Besten auf,
man darf hier auch nicht mehr den Mund aufmachen, mein Vadder hat mich schon gewarnt das zu machen, ich durfts nich ma euch erzählen, also deshalb nix sagen, ja? Lucas macht pfft, sagt,
Inzwischen sind wir doch die Juden, und reckt auf einmal den Hirnhalter hoch: Guck mal, Kaki und Peppi komm'. Alle drei schauen hin, wie Männer das eben machen, wenn sie ne geile Schlampe sehen,
glaubt Aurich, und Peppi ist so eine: immer voll den tiefen Ausschnitt und wo der Tange dauernd rausguckt. Die hat auch schon mal gepoppt, das Fleischgewehr in ihrer Matschpflaume drin gehabt,
den Genitalhydranten zum Spritzen gebracht. An die will Aurich nicht ran. Keiner von den Kerlen in der Klasse will das. Aber Kaki, die findet er ziemlich hübsch und cool. Die trägt auch immer
Sachen von H&M und ist sau lustig und sieht richtig gut mit Schminke aus. Die hat auch angefangen, ihn Aurich zu nennen. Vielleicht liebt sie ihn ja. Wieso sie aber mit Peppi der hässlichen
Fotze abhängt, versteht er nicht. Aurich grinst Kaki an. Kaki grinst zurück und Peppi auch, obwohl er die dämliche Alte nicht mit dem Arsch angeguckt hat. Ey Aurich, wat grinste so, ruft Kaki ihm
zu. Gar nichts, sagt Aurich und grinst noch mehr. Warum nennen dich jetze eigentlich alle Aurich? fragt Robin, müsste doch eigentlich Scheel heißen, oder? Lucas versteht nicht, wie er das fragen
kann. Haste dit ja nich mitjekricht? Robin schaut ihn verpeilt an. Ja, wat denn? Und Aurich klärt diesen Verchecker auf, Na, ich komm doch aus Ostfriesland, Aurich bin ich geboren worden. Ach so,
sagt Robin und kickt einen Bierdeckel weg. Is aber schon n bisschen umständlich, oder? Normalerweise nimmt man ja dafür den Vor- oder Nachnamen. Und erst biste die ganze Zeit Scheel gewesen und
jetze uff einmal Aurich. Lucas verteidigt den Namen, Wieso, ist doch voll der fette Spitzname.
Dafür gibt’s prompt ein High-Five von Aurich.
Zur großen Enttäuschung Keblatts hat ihr die ehrwürdige und schulanekdotenträchtige Kaufmann absagen müssen. Es läge aber nicht am Parkinson, so die in wohlverdienter Rente befindliche Kaufmann –
ihr Zustand ist stabil geblieben –, sondern an ihrem Fuß, mit dem sie vor kurzem unglücklich umgeknickt sei; sie könne einfach keine langen Strecken gehen, was sich mit der Weitläufigkeit des
Lagerkomplexes natürlich unmöglich vereinen lasse.
Also doch keine auf dem letzten Poeng organisierte Gratis-Museumsführerin. Keblatt gibt zu, dass das auch zu schön gewesen wäre, um wahr zu sein.
Einmal hat Jeanne davon geträumt, mit der Klasse zu einer solchen Gedenkstätte zu fahren. Nur war es nicht Sachsenhausen, sondern Buchenwald, glaubt sie, oder Dachau. Die Stimmung war im Traum so
unheimlich, wie Jeanne sie sich im Wachen immer vorstellt, wenn sie an Konzentrationslager denkt. Der Traum entsprach praktisch ihrer Vorstellung, will sie damit sagen. Da sollte sie also zu
diesem Ort hin, in dem das Sterben und der Tod bis zum Geht-nicht-mehr zusammengeballt gewesen und herausdestilliert worden sind wie Alkohol; in dem diese wandelnden, mit Haut so dünn wie
Schwimmhäute überzogenen Gebeine ihr zweifelhaftes Domizil hatten. Diese großen Augen, die so tief in den Höhlen lagen, diese krassen Wangenknochen, diese, oah, wie soll sie sagen, Gerippe, die
an Schädelstätten denken lassen, an Verdammnis. Aber dann nur halt noch viel schlimmer.
Jedenfalls, sie hat von so einem Besuch geträumt. Der Himmel war grau wie die gruseligen Archivbilder, die man im Fernsehen und in Geschichtsbüchern zu sehen bekommt. Sie weiß noch, dass es über
die Autobahn ging. Eine große Kurve mit Steigung führte über eine Brücke und dann direkt zum Lager; dem Lager mit diesen Baracken, diesen vielen Baracken. Und da, da vorne, war der
Stacheldrahtzaun, und auf einmal sah sie sich mittendrin in so einer Konzentrationslagerbaracke oder sie hat sich das im Traum vorgestellt, vorgestellt mittendrin zu sein, im Konzentrationslager,
und es überkam sie nur noch das blanke Grauen, ein Grauen wie ein Trauma, und die totale Angst, dass sie nur noch weg wollte. Es ging einfach nicht, sie konnte es nicht aushalten, diesen Horror
und diese Angst. Da sprangen all die Bilder hoch, mit den leblosen, labberigen, übereinander geschmissenen Leichen und den wandelnden Gerippen, die bei ihr immer die Frage aufwerfen, wie die
überhaupt noch gehen konnten, wo doch nix mehr an und in ihnen war.
Einmal hat sie zu ihrem Vater mit Vehemenz gesagt, sie werde keinen Fuß in so eine Gedenkstätte setzen, das würde sie total traumatisieren, könnte sie gar nicht ertragen. Vielleicht hat sie das
gesagt, nachdem sie diesen Traum geträumt hatte. Jeanne überlegt, ob sie ihrem Vater lediglich wiedergegeben hat, was sie im Traum gedacht und gefühlt hatte. Sie weiß es nicht mehr. Komisch,
denkt Jeanne, das alles ist noch gar nicht so lange her, und auf einmal geht es tatsächlich mit der Klasse in so ein Lager. Schon ziemlich krass und – , na ja, so ziemlich erstaunlich einfach,
wie manche Dinge im Leben, an die man mal gedacht hat, auf einmal eintreten. Solche Zufälle einfach.
Sie wird mitkommen. Das Interesse ist doch größer als die Angst und das Erschauern. Vielleicht ist auch, wenn sie versucht, mal ganz ehrlich zu sich selbst zu sein, so eine Grusel- und
Gänsehautgeilheit dabei. Außerdem, sie ist ja nicht alleine und auch nicht nachts auf dem Gelände. Ihr kann ja nichts passieren.
Hätte Herr Scheel das gewusst, hätte er sich als Aufsichtsperson ganz sicher nicht zur Verfügung gestellt. Wieder dieser, Entschuldigung, Holocaust-Scheiß und die Aufrechterhaltung des
Erbschuldsyndroms. Warum ist die Alternative zum Naturkundemuseum ausgerechnet ein Konzentrationslager? fragt er sich. Das war wieder klar. Nö, man hätte ja auch nicht einfach raus gehen und
selbst die Natur erkunden können, nein, es muss natürlich wieder mit dem Dritten Reich angefangen werden. Scheel schüttelt den Kopf. Das klappt ja bei den Deutschen ohnehin immer, damit kriegt
man sie ohne Probleme, weil sie sich das auch immer schön gefallen lassen. Sechzig Jahre nach dem Krieg sind die Kinder geboren worden, und jetzt sollen sie sich von irgendwelchen verkommenen
Gutmenschen, Zionisten und Dummbürgern brainwashen und sich irgendeine Schuld einreden lassen. Das ist einfach nur noch absurd. Er würde ja am liebsten was dazu sagen, aber dann, das weiß er,
würde ja doch bloß wieder die von der Lügenpresse manipulierte Schafsherde aufschreien und mit ihrer Hetze gegen Andersdenkende anfangen. Das sind doch in Wirklichkeit eigentlich diejenigen, die
intolerant sind, möchte Scheel in die Öffentlichkeit hinaus schreien. Sag um Gottes Willen! nicht laut, dass du es nicht einsiehst, der Sündenbock der Welt zu sein, sonst bist du gleich ein Nazi!
Es scheint, als hätten die Deutschen keinen anderen Lebensinhalt mehr, als Nazizeitwissen anzusammeln – wie Messis. Fakt ist, diese Gedenkkultur nimmt vollkommen überhand, ist einfach nur noch
übertrieben. So etwas wird nie wieder passieren, auch ohne dass die Deutschen ihr Leben die nächsten Jahrtausende auf Bewährung leben. Scheel hält noch immer das Telefon in der Hand. Er schaut
auf das Display, um sich zu vergewissern, aufgelegt zu haben. Hat er. Einen kurzen Augenblick fühlt er Erleichterung. Dann allerdings fragt er sich, warum. Er hat ja seine Gedanken, die unbequeme
Wahrheit nicht laut ausgesprochen; und selbst wenn, dass hätte der Keblatt vielleicht mal ganz gut getan! Eigentlich dachte er ja, sie wäre ganz vernünftig, dafür, dass sie eine Frau ist
jedenfalls; dachte, dass sie den Kids was Ordentliches beibringt, ihnen keine Mainstream-Informationen und – Bildung vorsetzt.
Scheel ist frustriert. Daran, dass den Kindern gesagt wird, sie seien Schuld, kann er nix ändern; seinen Sohn aber werden diese widerwärtigen Gutmenschen und Zionisten nicht in die Finger
bekommen und manipulieren! Dass Stefan verblödet wird, wird er zu verhindern wissen, darauf ist Verlass.
Scheiße, wie gerne würde er die Scheiße absagen.
[...] Sich in dieser Erinnerung ergehend, kommt Keblatt nicht umhin, vor sich hinzugackern; nicht zuletzt auch wegen ihres lustigen, leider nur im Geiste geäußerten Spruchs, die Frau habe Steine
im Hirn. Während sie sich durch die Website der Gedenkstätte Sachsenhausen klickt, stellt sie sich vor, die Steine-im-Hirn-Bemerkung vor einer Gruppe Menschen zum Besten zu geben, wildes
Gelächter zu erzeugen und anerkennende Blicke zugeworfen zu bekommen angesichts dieser, ja man kann sagen, Sentenz. Vielleicht sollte sie aufstehen und den Versuch wagen, mangels großem Publikum
wenigsten einen Lacher bei ihrem Mann zu ernten, überlegt sie und verwirft diesen Gedanken wieder, als ihr einfällt, dass er die Geschichte, die zum Verstehen des Ausspruchs zwingend und mit der
Pointe nach dem Vorbild siamesischer Zwillinge verknüpft ist, noch gar nicht kennt. Scheiß Gedenkstätte, raunt sie, wiewohl sie eigentlich sagen wollte, scheiß Zwillinge – warum auch immer. Sie
fragt sich, wie es zu dieser verbalen Verwechslung kommen konnte, und erklärt sie sich nach einigen, von Hypochondrie gekitzelten Überlegungen schließlich damit, dass offenbar der Header
Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen daran schuld sei, den sie einen Augenblick zuvor mit den Augen überflogen hat. Eigentlich wäre eine Führung nicht schlecht, findet Keblatt,
allerdings ist es nicht möglich, innerhalb der nächsten zwei Tage noch das nötige Geld von allen Schülern einzutreiben. Die nichtsnutzige und Sprechverbot würdige Bagage schafft es nicht einmal
in einem Zeitraum von vier Wochen, die erforderlichen Beträge für Veranstaltungen und Klassenausflüge mitzubringen. Hab' ich vergessen, hab' ich vergessen. Keblatt zieht die Augenbrauen
hoch. Wie wollt ihr Gehirnphantome etwas vergessen, das nie in eurem Bewusstsein angekommen ist?
Auf einmal plagen Keblatt Zweifel: Ist es wirklich eine gute Entscheidung, eine Exkursion zur KZ-Gedenkstätte zu unternehmen? Schließlich sind die Kinder in der schlimmsten sowie beschämendsten
Phase des Lebens: der Pubertät; die Episode, in der man für gewöhnlich außerstande ist, mehr zu sehen als sich selbst, in der die Abhängigkeit von dem Bildnis, das die Welt sich von einem machen
soll, am stärksten ist, in der man verunsichert ist wie nie zuvor und danach und mithin versucht ist, das eigene selbst aufzuwerten, indem man andere abwertet, in der man eine Rolle unter
seinesgleichen sucht. Keblatts Zweifel erhärten sich. Die Jungs könnten sie blamieren. Warum sollten diese oberlippenbefläumten Investitionsruinen auf dem KZ-Gelände auf einmal davon absehen,
Heil Hitler zu schreien, den rechten Arm zu erheben und sich darüber kaputt zu lachen? Sie verzieht das Gesicht, die Vorstellung ist für sie kaum zu ertragen. Nein, sie müssen sich nicht
für die nationalsozialistischen Verbrechen interessieren, das ist ihr wurscht, von ihr aus dürfen sie sich ruhigen Gewissen langweilen, solange es leise und unauffällig vonstattengeht. Lass mich
einfach diese Exkursion überstehen, ohne dass ich mich im Namen der Klasse bei Museumsmitarbeitern und Überlebenden für pietätlose semiotische Entgleisungen entschuldigen muss, spricht Keblatt
gebetsartig zu sich.
Von der alternden Museumsangestellten hat sie sich am Telefon sagen lassen, die Hells Angels seien womöglich für den kleinen Brand verantwortlich gewesen, was Keblatt für ziemlichen Stuss hält,
glaubt sie doch, dass die Mafia lukrativere Verbrechen zu pflegen hat, als in einem im Nirgendwo verorteten Museum rumzukokeln. Hells Angels ..., Keblatt macht einen verächtlichen Laut. Hörten
das die gemeinen Provinzstippies, die mutmaßlich den Brand entfacht und sich an ihm gelabt haben, als wären sie, statt Menschenaffen, die Entdecker des Feuers gewesen, kämen sie doch glatt in die
Verlegenheit, sich geschmeichelt zu fühlen – zu Unrecht.
In Keblatts Kopf wiederholen sich ohrwurmartig die beinahe schon ans herzige grenzenden Salven der Betroffenheit und Empörung, Stellen Sie's sich mal vor, die haben doch tatsächlich die
Holzvitrine mit den Steinen angezündet, sprach die Angestellte nahezu aufgedreht – Keblatt konnte am Hörer vernehmen, wie sich dieselbe mit der Hand gegen den Kopf schlug. Ich mein, entschuldigen
Sie, aber mal ganz ehrlich: Was muss in einem Hirn vorgehen, um es auf Steine abzusehen? Ich mein, Steine! Keblatt, die lediglich dachte, die Frau habe Steine im Hirn, versuchte sich den Anschein
zu geben, nach einer Antwort zu suchen, indem sie mit den Schultern zuckte und einen dezenten Schmollmund machte, ohne derweil zu bedenken, dass derartige Gesten sich bei einem Telefonat als
einigermaßen müßig darstellen. [...]
Es ist Aurich so ziemlich Latte, ob es nun zum Steineanglotzen geht oder ins Konzentrationslager. Wobei, eigentlich ist es schon geiler ins Konzentrationslager zu gehen, weil das bestimmt arschlustig wird mit Robin, und Lucas erstmal, und dann hitlern die sich gegenseitig und schreien wie geil, wie geil, lol Alter, Aurich könnt jetze schon bei dem Gedanken derbe ablachen. Er findet es übrigens auch sehr geil, dass ihn jetze alle Aurich nennen, weil, das ist voll der fette Spitzname, richtig gut, dass Kaki darauf gekommen is und das jetze auch alle so mitmachen. Sein Spitzname ist jetze mit Abstand der Beste im ganzen Jahrgang, findet Aurich, der hat so richtig Ecken und Kanten und spiegelt auch wider, wie er drauf ist, der hat, wie soll er sagen, so Wiederkennungswert und so guten Sound.
Das Konzentrationslager kostet wenigstens nichts, murmelt Lehrerin Keblatt in sich hinein und kommt zu dem weisen Entschluss, mit der Klasse nach Sachsenhausen zu fahren als Kompromiss für die geplante und ob eines Brandunglücks nunmehr ins Wasser gefallene Bildungsreise ins Naturkundemuseum. Denkt sie genauer darüber nach, ist das Brandunglück eigentlich für alle Beteiligten – sieht man von den Museumsangestellten ab - das Beste, was geschehen konnte. Wie sollten auch ein paar vermeintlich bemerkenswerte Mineralien hinter den Vitrinen eines Gurkenmuseums das Quasi-Weltwunder vollbringen, die Aufmerksamkeit der in Zeiten der hormonellen und neuronalen Überlastung befindlichen Jugendlichen an sich zu reißen; wo doch selbst sie als lebende, sich durch Kommunikation bemerkbar machen könnende Materie daran scheitert? Keblatt hört die betagte Stimme der Museumsmitarbeiterin im Kopf, von faszinierender Fluoreszenz hat sie gesprochen und dass es mit dieser nun ob der Brandschäden ein für alle Mal vorbei sei. Als ob faszinierende Fluoreszenz es nun gerissen hätte. Keblatt macht ein spöttisches Gesicht. Mit Verlaub, aber wenn Jugendliche darauf erpicht sind, bunte Lichter zu sehen, machen die sich schon selbst einen Bunten mit psychologisch bedenklichen Substanzen, kommentiert sie ins Leere. Und wahrscheinlich wäre dergleichen sogar für sie selbst weitaus unterhaltsamer, als ein paar bescheuerte Steine bei ultraviolettem Licht rot, blau, gelb oder wie auch immer leuchten zu sehen und sich gemäß der Etikette für Lehrkörper den Anschein der Ergriffenheit zu geben. Keblatt versucht sich das Brand beschädigte Erdgeschoss des Museums vorzustellen und die mit Ruß bedeckten Mineralien. Hin und wieder ist auf die jämmerliche, aus Stumpfsinn randalierende Jugend doch noch Verlass, wird sie gewahr.