Am Tag nach der Beerdigung zog es uns alle ins Zentrum des Hauses, es war eine Schwerkraft, die das Alleinsein verhindern wollte. Vater hatte übernachtet, da der stetige Regen zu Überflutungen
der Straßen führte und es nicht argumentierbar war, dass er in der Nacht noch heimfuhr. Er legte sich anständig auf die Couch und schlief. Ich war hundemüde, als ich endlich die Tür zu meinem
Zimmer öffnete, ich fühlte die Erde, die nun auf Mutter lag, ich fühlte das Gewicht an meinen Knöcheln, Handgelenken, Schultern. Es zog mich zu Boden, nicht einmal zum Bett, sondern zu Boden. Ich
war müde. Ich dachte an Mutter, ich dachte an Laura. Ich dachte auch an Vater. Auch an Großcousine Miriam und Onkel Billy, die Praktikanten, Nachbarn, Menschen aus meiner Arbeit und überall auf
der Welt. Ich dachte an sie alle und fühlte mich allein. Was gab es zu sagen eigentlich, was gab es zu tun. Ich ließ mich auf den Boden niedersenken und setzte mich, die Arme um meine
hochgezogenen Knie. Dann kippte ich zur Seite, landete auf dem Teppich. Was gab es zu denken, jetzt, in diesem Moment. Meine rechte Gesichtshälfte wurde von den Teppichfasern gekitzelt, aber es
kam nicht in meinem Gehirn an. Mein Arm tat weh, aber auch das kam nicht in meinem Gehirn an. Alles war gedämpft, weit entfernt. Das einzige was war, war der Teppich und der Boden und meine
unbequeme Position. Und der Gedanke: Und jetzt? Und jetzt? Und jetzt? Das Sterben und das Begräbnis waren vorbei, aber was war nun übrig. Wie kehrte man ins Leben zurück, was war dieses Leben
überhaupt. Wusste das jemand? Ich wusste es nicht.
Mutter war also gestorben. Ich wusste, dass es kommt und dennoch war es eine Überraschung.
In der Nacht träumte ich von vielen Menschen, einem ehemaligen Studienkollegen, der mehrmals das Wort "Fleischlaibchen" sagte und ich zerkugelte mich im Traum darüber, dann noch etwas mit
aufblasbaren Palmen und Dingos, die über breite Steppen liefen. Ich wachte auf und war verwundert, zugleich amüsiert. Ich stieg aus dem Bett und machte Frühstück, irgendwas mit Eiern, das weiß
ich noch. Vielleicht las ich Zeitung oder trank Kaffee im Stehen, weil ich es mir beim Arbeiten angewöhnt hatte. Vielleicht nichts davon. Ich weiß es nicht mehr. Es blieb still im Haus, lediglich
die Spülmaschine rannte surrend im Hintergrund. Laura schlief, sie hatte von der Ärztin im Krankenhaus Medikamente zur Beruhigung bekommen.
Ich wünschte, sie wäre zu Hause gestorben. Ich wünschte weiter, dass es natürlich gewesen wäre. Ich stellte mir das so vor: Irgendwann gehe ich nach ihr schauen, in der Früh. Vor dem Rasieren,
nach einer Eierspeise, ich weiß es nicht. Irgendwann gehe ich in Mutters Zimmer und finde sie. Finde sie nicht, um genau zu sein. Ihr Körper liegt im Bett, aber sie ist nicht mehr da. Ich sehe es
sofort. Ihre Brust hebt sich nicht, der Winkel ihres Halses ist zu schlaff und ein paar ihrer Falten fangen an sich zu glätten, da sie den Mund nicht mehr angestrengt verziehen kann. Ich stehe in
der Tür, die Hand noch immer auf der Klinke und ich denke, ja was denke ich eigentlich. Ich denke: Das ist der Moment. Was mache ich jetzt. Und dann entflieht mir ein Schluchzen, ein lautes, wie
Schluckauf, kurz und laut. Ich lege die andere Hand über den Mund und sage: Mama? Doch keiner antwortet mir. Nur die Sonne scheint leise in den Raum und der Staub fällt auf sie. Am Ende hatte sie
nicht nur uns und sich selbst vergessen, sondern auch das Leben.
So stellte ich mir das vor. Laura kam nicht vor, auch Vater nicht. Ich fand sie, nur ich allein.
Der Blick aufs Meer III
Bei unserem Platz stritt die Frau, die immer neben uns lag, mit jemandem, wahrscheinlich ging es wieder um die Handtücher. Die Frau ließ ihr Handtuch immer unter dem Baum liegen, beschwerte es
mit Steinen, damit es nicht vom Wind weggeweht werden konnten. Die Leute um uns herum mochten das nicht, hatte Lena mir erklärt, sie mochten die Frau deswegen nicht. Das war, weil sie den einen
schönen Platz unter dem Baum für sich behielt. Mir war das unangenehm, auch weil uns die Leute so anschauten, so, schauts, das sind die Kinder von der. Deswegen räumten wir immer unsere
Handtücher weg und schliefen manchmal woanders, damit die Leute sehen konnten, dass wir nicht zu ihr gehörten. Aber das war dann allen wieder egal, glaube ich, die wollten nur jemandem böse
sein.
Schließlich sind wir irgendwann auf und sind zu einem der größeren Zelte, dort konnten wir manchmal bleiben, wenn wir früh genug kamen. Lena muss im hinteren Teil sein, weil sie schon größer ist
und älter, ich musste vorne bleiben. Ich setzte mich auf einen freien Platz und überlegte, was die Eltern gerade machten. Vielleicht tranken sie noch einen Kaffee, um wach zu werden, und das
ergab wie immer keinen Sinn, denn danach gingen sie spazieren, um wieder müde zu werden. Aber wahrscheinlich tranken sie keinen Kaffee, denn es gab keinen Kaffee mehr.
Lena hat einmal gesagt, dass daheim ein Krieg ist, auch die anderen Leute auf dem Boot hatten das gesagt. Eigentlich erzählten sie es sich gegenseitig, mit mir redete niemand, wahrscheinlich weil
Lena ihnen das verboten hatte. Sie wollte nicht, dass ich diese Sachen wusste, aber ich wusste nicht warum. Dieser Krieg, von dem sie gesprochen hatten, den habe ich nie gesehen. Ich fragte mich,
ob es ihn überhaupt gibt. Als die Eltern uns von daheim wegbrachten, brannte kein Gebäude und die Fenster waren noch ganz und niemand warf Steine und auch niemand trug eine Waffe und schon gar
niemand schoss auf uns. Nichts davon habe ich gesehen. Und wie soll man sonst wissen, ob Krieg ist oder nicht? Ich hatte die Eltern fragen wollen und Lena auch, aber sie weinten alle und das
Verabschieden war so kurz. Nachher tat es mir leid, dass ich Mama nur zweimal gedrückt hatte und Papa sogar nur einmal. Aber dann waren wir schon auf dem Boot und ich konnte nur noch winken und
das nur kurz, weil Lena es nicht erlaubte. Vielleicht haben alle das mit dem Krieg falsch verstanden oder haben sich das nur ausgedacht, um mir Angst zu machen. Ich dachte an die Eltern und
fühlte mich ganz klein. Hoffentlich konnten sie bald kommen, dann müssten Lena und ich auch nicht mehr neben der Frau schlafen. Beim Wasserholen könnten wir uns endlich abwechseln.
Vom Nachdenken konnte ich nicht gut schlafen. Ich wartete bis es dunkel wurde und ging dann leise nach hinten zu Lena. Sie lag in ihrem Bett und schaute an die Decke, wieder schaute sie so
komisch, unglücklich fast. Ich legte mich zu ihr, mit den ganzen Anziehsachen, weil auch niemand was sagen konnte, mir war das egal. Lena reagierte gar nicht. Das wunderte mich, in letzter Zeit
schimpfte sie auch öfter mit mir, fast wie die Eltern früher.
Ich legte mich in die Kuhle zwischen Lenas Arm und ihrer Schulter, da passte ich gut hinein. Lena hatte das einmal mein Astloch genannt. Ich lag gerne so, es war bequem und warm und ich war bei
Lena.
Wir lagen also und nach ein paar Minuten schaute ich zu ihr hoch und sagte, Lena.
Ja, hat sie geantwortet.
Schläfst du schon?
Nein.
Wartest du auf mich mit dem Schlafen.
Da zog sie mich mit dem Arm näher an sich heran und sagte, ja. Ich warte immer auf dich.
Da hab ich gesagt, das ist gut, dann kann ich immer als erste schlafen.
Und Lena sagte, ja, das kannst du.
Der Blick aufs Meer II
Ich ging dann doch nochmal zurück zum Meer, an den vielen blauen und weißen Zelten vorbei. Vor jedem Zelt saßen die Leute herum und warteten, aber nie kam jemand. Wozu warteten
sie eigentlich.
Ich stellte mich an den Strand und überlegte, einfach so lange zu schauen bis ich Lena sehen würde. Ich stemmte die Beine in den Boden und machte die Hände auf die Hüften, denn so machen das
Menschen, die Ausschau halten. Das Meer war ganz groß und weit, in alle Richtungen ging es. Fast war es, als könnte ich nicht schnell genug schauen und das Meer war schneller und war schon da. Es
war ohne Ende, blau, blau, blau, jedes Blau aus dem Malkasten war da. Es war gut, dass auf kein Blau vergessen worden war, aber wo war Lena?
Große Meere heißen Ozeane, hatte mir Lena bei der Bootsfahrt erzählt. Dabei bin ich zwischen ihren Beinen gesessen und habe mich an sie gelehnt, das hat mir gefallen. Die Welt besteht aus drei
großen Ozeanen, die machen zwei Drittel der Erdoberfläche aus. Was Drittel sind, hat mir Lena auch erklärt, eigentlich ist es ganz leicht. Es ist so: Wenn die Nachbarin daheim sich wieder die
ganze Nacht mit ihrem Mann gestritten hat und ihr das am nächsten Tag peinlich ist, weil sie sich versöhnt haben, dann gibt sie uns drei Stück Kuchen. Eins für den Papa, eins für Lena und eins
für mich. Die Mama bekommt nie eins, weil sie kein weißes Mehl essen kann und die Nachbarin ihren Kuchen aber immer mit weißem Mehl macht, weil es auch nur das Mehl gibt. Lena und ich bekommen
also zwei Stück Kuchen von insgesamt drei, das sind zwei Drittel. Ganz einfach ist das.
Die Sonne brannte heiß und meine Schultern und mein Gesicht begannen zu jucken. Man soll sich nicht kratzen, davon wird es nur schlimmer. Eigentlich würde ich gerne zum Wasserhahn gehen und
meinen Kopf darunter halten. Ich schaue aber weiter aufs Meer und überlege, wenn das Meer so groß ist und die Lena darin, wie soll ich sie dann finden überhaupt. Und bevor ich Angst bekommen
konnte, dass sie für immer weg war und ich hier alleine bleibe, sah ich sie endlich. Sie saß ganz links am Strand, ihre Füße waren im Sand vergraben. Fast bekam ich das Gefühl, dass sie sich
versteckt hatte. Ich bin zu ihr hin und stellte mich vor sie.
Lena, hab ich gesagt, wir müssen zurück.
Nein.
Ja, und was sollen wir sonst machen.
Weiß nicht, was anderes halt.
Sie saß da, als hätte jemand die Luft aus ihr rausgelassen, traurig irgendwie. Warum war sie traurig, fragte ich mich, wir waren doch gemeinsam am Meer und konnten jeden Tag schwimmen gehen. Aber
fragen wollte ich Lena nicht, manchmal wurde sie wütend und ich wollte sie nicht wütend machen. Ich setzte mich neben sie und schaute auch aufs Meer, das schien mir richtig zu sein. Es war schön
zusammen zu sitzen, einfach so, ohne zu sprechen. Ganz wie Erwachsene, die ernsthaft sind und zusammen schweigen, weil alles schon gesagt wurde. Aus dem Augenwinkel blinzelte ich hoch zu Lena,
nur so aus Sicherheit, um zu sehen, ob sie nicht doch was sagen wollte. Aber sie hatte den Mund zu und die Stirn gerunzelt.
Dann irgendwann sind wir doch zurückgegangen. Lena stand von einem Moment auf den anderen auf, klopfte sich den Sand ab und ging los. Kurz war ich ganz verwundert, dass sie aus ihrer
Bewegungslosigkeit entstarrt war. Kann man das so sagen eigentlich? Jedenfalls ging sie los und ich bin dann hinterher.
Der Blick aufs Meer I
Ich bin aufgewacht und hab die Frau neben mir geschüttelt, wo ist denn die Lena, und sie hat gesagt, irgendwo schwimmen, lass mich in Ruh. Im Meer war sie aber nicht. Ihr Handtuch lag
unordentlich neben meinem, sonst war nichts zu sehen. Eigentlich war es komisch, dass es überhaupt noch da war. Ich hab zur Sicherheit auch ihres in meinen Rucksack getan und mitgenommen.
Ich bin dann vorgegangen zur Wasserstelle. Wie immer standen die Leute mit ihren Bechern an und warteten, bis sie dran waren, um sie zu füllen. Gleich neben dem Wasserhahn saß die alte Frau, die
kaputte Flaschen mit einem Taschenmesser auseinandersägte, um daraus zwei kleinere, dafür nicht kaputte Becher zu machen. Ich wollte sie fragen, ob sie Lena gesehen hatte, aber sie war so
vertieft ins Plastiksägen, dass ich sie nicht stören wollte.
Ich ging weiter zum großen Zaun, wo ist die Lena, fragte ich mich. Ein Mann stand davor und hielt sich mit den Händen an den Drähten fest. Er kaute Tabak und spuckte ihn allemal durch eins der
Zaunvierecke auf die andere Seite. Sein Gesicht war ganz braun, mit eingegrabenen Falten und Linien, wie ein gestrandeter Seemann sah er aus. Aber hier war sie auch nicht. Ich drehte mich einmal
im Kreis. Wo ist die Lena, dachte ich erneut.
Mir war fad. Es gab auch nicht viel zu tun außer schwimmen und in der Sonne liegen, aber das hatte ich schon erledigt für heute. Vielleicht noch Wasserholen, aber das machte ich mit Lena. Ich
musste sie unbedingt finden. Wo war sie eigentlich und warum war ich allein.
Der letzte Krankenhausbesuch bei der strengen Tante zum Beispiel, da war der Lena wieder was eingefallen. Wir waren alle um das Bett von der Tante versammelt. Lena und ich sollten still sein und
gerade stehen, hatte die Mama vorher gesagt, weil wenn wir bucklig stehen, oder uns hinsetzen, dann wirft das Kleid Falten und es sieht aus, als hätte sie es nicht gebügelt und das war ja nicht
wahr. Die Kleider für uns hatte sie extra bei der Nachbarin ausgeliehen, das heißt wir mussten doppelt vorsichtig sein. Später begann die Tante leise vor sich hin zu schimpfen, als die Eltern aus
dem Zimmer gingen. Vielleicht dachte sie auch, Lena und ich könnten sie nicht hören, aber wenn sie das dachte, dann war sie dumm, wir standen ja gleich daneben. Sie schimpfte auf die Eltern, ihr
geldgeilen Schweine, sagte sie, ihr gierigen Stücke. Warum sie das sagte, wusste ich nicht, auch Lena wusste es nicht, sicher war es kein guter Grund. Lena hat dann begonnen die Pillen der Tante
nach Farbe und Größe zu sortieren und kleine bunte Häufchen auf dem Nachttisch zu machen. Als die Tante das bemerkte, wurde sie wütend und schimpfte auf uns, ihr undankbaren Gören, hat sie
gesagt, aber wir mussten nur noch mehr lachen und Lena zwinkerte mir zu.
Zwischen Schaumstoff III
Ich atmete ein. Die Luft war frisch vom Regen und anders. Anders als daheim.
Ich sah auf Daisy nieder. Ich dachte, nie werde ich wieder nur zu zweit sein mit ihr. Und das war ein gutes Gefühl und auch ein furchtbares Gefühl. Ich dachte an dieses Bild, das idyllische alte
Bild von Klein-Daisy, die auf der Schaukel saß und ich tauchte sie nicht an, nein, keine metaphorische Bedeutung von höher und höher. Nein. Ich lag auf dem Boden unter ihr und Daisy schaukelte
über mir. Ihre kurzen Beine berührten mich nicht einmal. Und doch waren wir eine Einheit, sie oben, ich unten. Sie quietschte jedes Mal vergnügt, wenn sie über mich hinwegdonnerte und ich lachte
zurück, denn darum ging es: egal wie sehr sie strampelte, sie kam nicht von mir weg und egal was ich tat, ich war ihr Auffangnetz. Bevor der Boden für Daisy kam, war da noch ich. Und bevor für
mich die Sonne schien, sah ich Daisy auf mich runterlachen.
Und ich fragte mich, ob da noch Platz war für jemand anderen. Wo war da Raum? Wer von uns zwei musste zur Seite rutschen. Ich sah zu Charlie und ich dachte auch an Gilbert. Und Cecilé, Silvija
und Lukas. Es war Platz genug. Ich musste nur Platz machen wollen.
„Wir gehen jetzt“, sagte ich.
„Ich warte hier“, antwortete Charlie. Er reichte uns den Regenschirm, aber Daisy schüttelte den Kopf. Mir war übel.
„Komm Lisa“, sagte Daisy. Sie zog sich den Schal vom Kopf und reichte ihn Charlie. Sie führte mich über die Straße. Wir gingen die wenigen Stufen zum Hauseingang hoch und blieben stehen. Neben
der Klingel stand sein Nachname. Unser Nachname. Er sah fremd aus, fremd und furchteinflößend.
„Hast du Angst?“ fragte Daisy. Sie drückte beruhigend meine Hand.
Ich lächelte sie an. „Ich sag's dir in einer Minute.“
Dann drückte ich die Klingel.
Zwischen Schaumstoff II
Das Haus war klein und grün und hatte eine große Eingangstür aus hellem Holz. Die Sache mit Türen ist die, dass sie meistens so aussehen als passierte hinter ihnen nichts, dabei
beherbergen sie ganze Leben. Menschen, Familien, Dinge, die geschahen, waren in diesen Universen drin und von draußen nicht einsehbar. Und egal, wer vor der Tür stand, oder warum, alle waren
Eindringlinge, die hineinwollten in diese Welt. Ich wollte gar nicht hinein, ich wollte nur einen Blick reinwerfen. Aber für ein ‚Hinein‘ musste die Tür dennoch geöffnet werden, nicht wahr.
Wie lange wir schon hier waren, wusste ich nicht genau, aber das war nicht wichtig. Wir schwiegen. Ich traute mich nicht über die Straße zu gehen. Wir standen da und taten nichts. Genauer, ich
stand da und Daisy und Charlie leisteten mir Gesellschaft.
Irgendwann fing es an zu nieseln und wir taten immer noch nichts. Charlie spannte den kaputten Regenschirm auf und hielt ihn über unsere Köpfe. Daisys Hand lag sicher in meiner. Es nieselte
weiter und ich nahm meinen Schal und wickelte ihn ungelenk um ihren Kopf. Mit der freien Hand schlug Charlie den Kragen seines Jacketts auf und schob seine Mütze tiefer über die Augen. Und
so blieben wir eine Weile.
Ich stellte mir vor, wie das wohl aussehen musste. Ein Mann im Rollstuhl und zwei Mädchen, die vor einem Haus standen. Alt, groß, klein mit Turban auf dem Kopf. Nassgeregnet. Und ich dachte, ja,
was dachte ich eigentlich?
Ich dachte, hier lebt er also. Der Mann mit unserem Nachnamen. Ich musste nur über die Straße gehen, die Hand ausstrecken und auf die Klingel drücken.
Daisy war still. Sie stand neben mir, aber sie stand mir bei. Sie stand neben mir, hielt meine Hand und ließ sich für mich anregnen. Ich fragte mich, warum das für mich schwerer war als für sie.
Ich versuchte mir einzureden, dass alles gut werden würde, dass es nicht schlimm war, nach all den Jahren plötzlich zu erfahren, dass ich einen Bruder hatte. Einen Bruder, der mich als Baby in
den Armen gehalten hatte. Ich wollte nicht in einer Welt leben, in der man Geschwister entdeckte wie alte Süßigkeiten in Couchritzen oder Kleingeld in der Hosentasche. Ich war zu zweit, immer zu
zweit mit Daisy, niemals zu dritt. Und dann begann ich, „deppert, blöd, deppert“ vor mich hin zu murmeln, immer und immer wieder, bis sich der Klang von der Bedeutung löste und ich nur noch
komische Silben flüsterte. Es half nichts. Ich hatte Angst.
Daisy räusperte sich und rückte den Schal auf ihrem Kopf zurecht. Ich blickte zu ihr hinunter. „Freust du dich?“ fragte ich.
„Weiß nicht, glaub schon.“
Ich bemühte mich zu lächeln. „Es wird gut werden.“
Sie schaute skeptisch.
„Vielleicht findest du ihn nett“, sagte ich.
„Wie soll ich ihn nett finden?“
Dazu fiel mir nichts ein.
Charlie hielt den Schirm weiter über unsere Köpfe. Ich hätte gerne gesagt, dass kein Regen mehr auf uns fiel, aber vier Speichen waren kaputt und eine Seite hing traurig nach unten.
„Alles wird gut“, sagte er.
„Woher weißt du das?“
Und Daisy, diese neunmalkluge Alleswisserin, sagte: „Weil wir jung sind und nicht allein und das sind die besten zwei Dinge auf der ganzen Welt.“
Charlie lachte. „Das ist wahr.“
Er schaute Daisy einen langen Augenblick an, ganz ernst war er dabei. „Wir sind hier zu dritt. Und das ist ein ausgezeichneter Anfang“, sagte er und zog die Augenbrauen hoch.
„Ja?“
Und Daisy und ich nickten. „Ja.“
Es hörte auf zu regnen und wir schwiegen wieder. Charlie wechselte manchmal den Arm mit dem er den Regenschirm hielt und ich fühlte mich nicht mehr so schwer.
Zwischen Schaumstoff I
Plötzlich war Oma tot. Von einem Tag auf den anderen. Sie ging am Abend schlafen und stand in der Früh nicht mehr auf.
Mutter sagte, dass Tante Lucille sie gefunden hatte. Gefunden war wohl übertrieben. Sie rief Oma aus der Arbeit an, aber Oma ging nicht ran. Sie rief auch nicht zurück. Tante Lucille fuhr in
ihrer Mittagspause zu ihr, dachte vielleicht unterwegs, dass Oma wieder ihr Telefon verräumt hatte oder es irgendwo im Haus herumkugelte. Einmal hatte sie es in den Brotkorb gepackt und Mutter
hatte sie stundenlang nicht erreichen können. Nachher hatte sie mit Oma deswegen am Telefon gestritten und sie senil genannt. Oma hatte ihr geantwortet, dass sie Wichtigeres zu tun hätte als auf
depperte Anrufe zu warten.
Doch als Tante Lucille in Omas Haus ankam, war es leer und still und kalt. Oma lag im Bett, ihre weißen Haare zu einem Zopf geflochten, denn so machte sie es immer noch, nach all den Jahren. Aber
auch Oma war kalt, obwohl sie unter der Bettdecke lag. Sie war kalt und nicht mehr auf dieser Welt.
So stellte ich mir das vor, als Mutter sagte: „Oma ist tot, Tante Lucille hat sie gefunden.“ Viel mehr sagte Mutter nicht, außer diesen einen Satz. Dann begann sie zu weinen.
Ich nahm Daisy an der Hand, zog ihr eine Jacke über und ging wortlos mit ihr raus. Sie war wie immer, nur schweigsamer, aber das war schon alles. Draußen ließ mich der Wind frösteln, meine eigene
Jacke hatte ich vergessen, nicht einmal ein Taschentuch hatte ich dabei. Es kitzelte mich ganz eigenartig in der Nase, aber ich musste nicht weinen. Dann brannten meine Augen, aber ich musste
nicht weinen. Ich blieb stehen und legte meine Hand auf Daisys Kopf, auf ihre weichen Haare. Sie schaute hoch zu mir und ihre Augen waren wie immer, tränenlos und blau. Ich schaute sie an, strich
ihr über den Kopf und wünschte, dass sie das Zittern in meiner Brust wie ein Blitzableiter erden konnte. Dass „Oma ist tot“ über meine Hand durch sie hindurch in den Boden fuhr und dort blieb. Am
besten für immer.
Doch Daisy blinzelte mich an und nichts passierte. Die dicke Luft staute sich weiter in meinem Kopf anstatt zu entweichen, bis sie von innen gegen meinen Schädel drückte und meine Augen davon
pochten. Mir wurde schlecht und ich ließ Daisy los. Versuchte zu atmen, einmal, zweimal. Alles war gleich, nur lebte Oma nicht mehr. Es kam mir surreal vor, was war das für eine Wirklichkeit in
der Oma tot war. Waren wir am falschen Filmset? Diese Szene war nicht uns bestimmt.
Daisy streckte mir kurz ihre Hand entgegen, ließ sie aber wieder fallen. Ich hätte keine Kraft gehabt, ihr meine zu reichen.
Ich bemerkte erst jetzt, dass wir stehen geblieben waren, mitten auf dem Gehsteig. Menschen gingen um uns herum als wären wir Liftfasssäulen. Absätze klackerten, jemand rauchte eine
Zigarettenwolke in unsere Richtung, Daisy wurde von einem Hund angerempelt. Alle gingen weiter. Alles ging weiter. Nur wir nicht.
Ohne Oma war alles anders.
Fürchte dich vor fremden Frauen II
Ich wachte auf, weil ich Schmerzen im Gesicht hatte. Als ich die Augen öffnete, sah ich Laura über mir und spürte kurz darauf eine saftige Ohrfeige, dass mir die Löffel wegflogen.
„Bin ich tot“, fragte ich.
„Red keinen Unsinn“, erwiderte sie, „könntest du reden, wenn du tot wärst?“
Ich richtete mich auf, mein Schädel brummte, mir war übel. „Was ist passiert“, fragte ich.
„Du Idiot hast das Seil nicht am Ast festgebunden“, antwortete sie und reichte mir wortlos eine Flasche selbstgebrannten Schnaps, den sie aus Vaters Versteck entwendet hatte.
Auf dem Weg nach Hause tranken sie gut die halbe Flasche leer. „Fürchte dich vor Frauen aus dem Osten“, sagte sie damals zu mir, „bei denen weiß man nie!“
Ich verstand nicht. „Ich liebe sie doch“, heulte ich verzweifelt. Laura war schon ein wenig angetrunken und legte mir den Arm um die Schulter. „Diese Mädchen, da musst du aufpassen, die will dich
nur ausnehmen, die sind alle gleich!“
Ich erkannte also die Wahrheit. Ob es die frische Luft war, die leichte Gehirnerschütterung oder der Alkohol, konnte ich eigentlich nicht sagen, aber ich erkannte, dass fremde Frauen gefährlich
waren (vor allem die aus dem Osten). Ich erkannte auch, dass Lydia nicht meine große Liebe sein konnte. Wahrscheinlich hatte sie sogar Mundgeruch und war auch ein bisschen blöd, weil sie ständig
lachte, dämmerte mir da.
Mir war schlecht und heiß. Zuhause wurden wir vom schreienden Vater empfangen. Lydia hatte nicht nur Mundgeruch, sie hatte mich auch noch verpetzt. Während Vater mich mit dem Gürtel durch die
Wohnung jagte und drohte, mich umzubringen, was einer gewissen Ironie nicht entbehrte, schwitzte ich die letzten Reste meiner Liebe aus dem System. Ich lief durch die Wohnung, versuchte mich
nicht von Vater erwischen zu lassen und dachte über den Sinn des Lebens nach. Ich hatte meine Lektion gelernt: verlieb dich nicht in fremde Frauen, das macht nur Ärger. Eine Lektion, die sich
hinter die zahlreichen anderen reihen sollte.
Nachdem Vater müde geworden war und sich zur Erholung auf die Couch setze, ging ich mit Laura auf den Balkon hinaus, um die verdammte Liebespoesie zu verbrennen.
„Ich danke dir, dass du mir in dieser dunklen Stunde beistehst“, sagte ich zu ihr.
„Sei nicht so melodramatisch“, antwortete sie und warf ein Zündholz in die losen Blätter.
Ich stützte mich auf das Gelände und starrte hinunter auf den Parkplatz vor dem Haus.
Sollte das wirklich alles gewesen sein, fragte ich mich.
Schweigend stand sie daneben, während meine poetischen Ambitionen in Flammen aufgingen. Das Tageshoroskop empfahl den Verzehr von Hülsenfrüchten und Vollkornprodukten, las ich eine Woche später
in einer Frauenzeitschrift auf Mutters Nachttisch.
Fürchte dich vor fremden Frauen I
Bevor die Sache mit den Eltern war, war ich einmal verliebt. Kurz, aber dafür richtig.
Dem Tageshoroskop zufolge war ein guter Tag, um Fenster zu waschen und Haare zu schneiden, vom Lebensmitteleinkauf wurde eher abgeraten. Lydia war vor zwei Tagen im Haus nebenan eingezogen. Sie
kam aus dem Osten. Ich hatte wenig Vorstellungen vom Osten, aber ich dachte, dass es wahrscheinlich ganz nett war. So überlegte ich weiter, dass Lydia sicher klug sei (weil sie wenig redete) und
auch gut kochen konnte. Laura sagte, der Kommunismus sei an allem schuld. Ich verstand es nicht ganz, nickte aber zur Sicherheit.
Also verliebte ich mich in Lydia. Der Himmel war grau, ich war blau, nur sie war warm und leuchtend. Sie kam näher, schritt aus der Menge auf mich zu und rief: „Daniel!“
Sie wusste, wer ich war! Es war einer dieser Momente, die das Leben verändern. „Daniel“, rief sie erneut. Sie wusste meinen Namen. Alles war gut. Tatsächlich halluzinierte ich nur. Lydia kam
nicht und nichts war gut.
Dann begann ich zu schreiben. Nicht weil ich es konnte, oder weil es mir ein besonderes Bedürfnis war, sondern weil ich mich selbst dabei mochte. Ich mochte den Mann, der ich war, wenn ich
schrieb. Ich fand mich einfühlsam, unabhängig und trotzdem maskulin. Leider hatte ich nicht viel zu sagen, schon gar nicht zu schreiben. Ich quälte Laura mit Abhandlungen über Lydias Schönheit,
die überwiegend aus Adjektiven wie ‘besonders’ und ‘außergewöhnlich’ bestanden.
Nach zwei Wochen des Leidens entschloss ich mich zu einem gewagten Schritt: Ich wollte Lydia meine Liebe gestehen. Ich bestellte sie in den naheliegenden Wald und um meine Gefühle zu
verdeutlichen, band ich mir einen Strick um den Hals und setzte mich auf einen mittelhohen Ast. Ich war wild entschlossen, mich bei dramatischem Ausgang sofort zu erhängen.
Als Lydia kam, blieb sie vor dem Baum stehen, legte den Kopf in den Nacken und schaute mich an.
„Was wird das hier wenn es fertig ist“, fragte sie kaugummikauend.
„Ich liebe dich und wenn du mich nicht liebst, dann bringe ich mich um“, schrie ich zu ihr runter.
„Spinnst du, ich kenn dich doch gar nicht so gut.“
„Aber ich liebe dich“, heulte ich.
„Ich geh jetzt nach Hause, mir ist kalt.“
Ich sah mich dazu genötigt, ihr den Ernst der Lage zu verdeutlichen. „Ich bringe mich wirklich um“, schrie ich noch mal und rüttelte an meinem Ast.
„Ach“, antwortete Lydia und ging.
Ich schluckte und sprang.
Der alte Mann
der Kommunismus sei schuld
sprach die Mutter zum Kind
lange Zähne, graue Schläfen
so braunäugig und hart und fest
mit Liebe kauft er und gibt seinen Söhnen
alles, alles! Honig bis Obst und manchmal Toilettenpapier
woher das Geld?
woher die Muße?
nicht lieber Zeitung lesen, alter Mann?
dachte das Kind an der Hand, es weint
entlang der Platten
Männer, viele Männer kaufen auf
kaufen alles
am Ende: kluge Füchse und wirre Hühner
der Mann lacht,
verboten ist endlich auch das Wort
bedecke deinen Kopf
wir haben nichts in diesem Land
80% des eigenen Erfolgs ist das Scheitern der Anderen IV
Ich rief Simone an. Plärrte ins Telefon, sie solle kommen und beim Türken um die Ecke Fladenbrot und Cola holen, ich hätte seit Tagen nichts gegessen. Sie antwortete, ich soll
meine peinliche Fresse halten und mich zusammenreißen, sie würde nach der Arbeit vorbeischauen.
Sie blieb eine Weile und arbeite von mir daheim. Auch sie ist so verdammt wichtig, mit ihrem Job und Firmenhandy und keiner weiß, woher das kommt überhaupt. Aber sie war da und sie blieb und das
war schon ordentlich von ihr. Wenn sie telefonierte, klang ihre Stimme ganz anders, so, dass ich mich fragte, ob diese Person überhaupt jemals Dosenbier trank, oder mit mir gemeinsam die
Forumsleute als verpickelte Looser und fette Huren beschimpfte. Aber das war alles schon länger her und eigentlich wusste ich auch nicht, wann wir das zuletzt gemacht hatten.
Ich wunderte mich, ob es Simone überhaupt interessierte, dass ich da war und sie inmitten eines Haufens an Dreck und ungewaschener Wäsche saß, während sie ihr Ding machte. Vielleicht blieb sie
auch deswegen. Weil sie im Kontrast zu mir so viel geiler rüberkam. Aber vielleicht steigerte ich mich rein. Vielleicht sollte ich einfach froh sein, dass noch irgendwer bereit war, sowas für
mich zu machen. Oder irgendwas für mich zu machen. Fast hätte ich wieder zu heulen begonnen, aber vor Simone traute ich mich nicht.
Während sie telefonierte und in den Computer tippte, saß ich meistens auf dem Boden und lackierte mir die Fußnägel, lackierte auch ihr die Fußnägel. Begann mir die Haare einzeln mit der Pinzette
aus den Beinen zu reißen, starrte an die Decke und lag auch ein bisschen im Bett. Simone ignorierte mich und das war gut. Nach drei Tagen und vielen Essenslieferungen wurde ich langsam wieder
normal.
Ich ging mich waschen und auch mal zum Bäcker, um Kaffee zu holen. Draußen auf der Straße bekam ich Stiche in der Brust und nach 30 Metern musste ich stehen bleiben. Die Leute gingen einfach um
mich herum. Ich störte gar nicht, sie wanderten weiter, als wäre ich eine Litfasssäule oder ein großer Haufen Hundescheiße. Ich stand da und war kurz davor, zu keuchen und auszuticken. Das
Klacken dieser Business-Highheels machte mich fertig und die glattrasierten Typen sowieso. Als ich dachte, es geht echt nicht mehr, stand Simone plötzlich neben mir. Sie hatte ihr Handy in der
Hand und trug immer noch dieselben Klamotten von vor drei Tagen, sie hatte sich ja nicht umgezogen. Sie telefonierte mit ihrem Boss, sagte in einem Moment todernst was von Quartalsreport und im
nächsten nahm sie mich am Arm, deckte den Hörer ab und flüsterte mir zu, bei Gott, ich werd dich dreschen, wenn du nochmal sowas machst, ich musste fünf Bücher in die Tür klemmen, du hast ja den
scheiß Schlüssel. Dann telefonierte sie weiter als wäre nichts und ich starrte sie an wie ein Kalb. Mir schoss ein, reiß dich zusammen, das ist wirklich peinlich, und ja, du hast den scheiß
Schlüssel.
Das war vor dem Abschluss. Keine Ahnung wie ich das gemacht habe. Ich begann um sieben aufzustehen und ging in die Bibliothek, statt im Bett zu weinen, und das war eigentlich schon die halbe
Miete.
Langsam wurde es auch endlich warm. Simone ließ mir regelmäßig Geld da und gab Richard meine Adresse. Sie kamen abwechselnd und schauten, ob ich mich eh nicht im Bad erhängte. Tatsächlich sagte
das Richard einmal, als ich ihn nicht sofort raufklingelte: Ich befürchtete das Schlimmste! Und ich sagte, halt die Fresse, du Wixer, und dann lachten wir, weil zwar nicht alles gut war, aber
endlich war es weniger schlimm.
Ich duschte auch jeden Tag. Begann wieder im Forum zu schreiben, aber nur so ein bisschen und nebenbei, während ich den Lebenslauf machte und Arbeit suchte.
Ich holte wieder die Hängematte raus. Meistens lag nur Richard darin und rauchte Zigarre, weil er dachte, das gehört sich so. Irgendwie ging es mir zwar auf die Nerven, aber es war zum Aushalten.
Ich dachte irgendwann an die Sache mit dem Universum und erzählte Richard und Simone davon, aber nicht gleichzeitig, weil sie waren ja nie gemeinsam da, wegen der Trennung und so. Ich bekam das
Gefühl, dass sie es beide nicht komplett behindert und kindisch fanden. Ich hörte auf, mit Simone über die Leute aus dem Forum zu reden, und fing stattdessen bei ihr in der Firma an. Ungelogen
hatte ich echt Angst, aber sie sagte nur, reiß dich zusammen, das wird schon. Dann verging ein Monat und wir tranken Schnaps in der Mittagspause, um darauf anzustoßen und mussten blöd lachen.
Nachher wäre ich fast aufgeflogen, aber das war es wert. Das war dann schon im Sommer.
Ich zahlte auch Richard zur Abwechslung einen Kaffee. Er erzählte mir da, dass die Leute es nicht besser wissen, oder vielleicht wissen sie es schon, sie können aber nicht proaktiv deswegen sein.
Das war, weil er wieder so klug reden wollte um mich zu beeindrucken, aber ich sagte nur: scheiß drauf, scheiß auf die Leute, lass uns über ordentliche Dinge reden. Er schaute verlegen in seinen
Kaffee, aber als ich fragte, noch einen, nickte er und dann fiel mir auf, dass er seinen dämlichen Bart abrasiert hatte. Gut so.
80% des eigenen Erfolgs ist das Scheitern der Anderen III
Jedenfalls die Sache mit dem Plan: Abschluss, Job, Geld. Und das mit der Kunst. Ich dachte zuerst, ich lasse das Universum entscheiden, kein Scheiß. Kommt der Job, kommen die
Kunststipendien, ich nehme alles und mache da weiter. Aber nach zwei Wochen hatte ich das hinter mir. Nach zwei Wochen hatte ich so ziemlich alles hinter mir, von billigen Zigaretten kaufen, um
Geld zu sparen, bis zu Sushi liefern lassen, weil ich tagelang nicht die Wohnung verließ. Manchmal fand ich es gar nicht so schlimm. Ich legte mich ins Bett und deckte mich zu. Es war eigentlich
schon Frühling, aber immer noch Winter. Ich schaute den ganzen Tag runtergeladene Serien und ließ mich von der rührseligen Filmmusik anficken. Dann dachte ich, wenn ich mich einfach nicht bewege,
wird alles gut. Oder anders, alles wird nicht gut, aber auch nicht schlechter, weil ich tue ja nichts und vom Im-Bett-liegen kann nichts Schlechtes kommen. Ein paar Wochen ging das so. Das war
eben im Frühling.
Irgendwann schrieb mir Richard im Forum. Er schrieb gleich mehrmals, aber ich öffnete die Nachrichten nicht, sonst würde er das mitkriegen. Man muss ja trotzdem das Gesicht wahren, obwohl man die
welken Sushireste von vor zwei Tagen mit den Fingern isst. Richard hörte irgendwann auf zu schreiben. Meine Adresse hatte er nicht, eingeladen hatte ich ihn nie. Wozu auch und wer will das
eigentlich.
Ich lag dann weiter im Bett und weinte wieder, ein bisschen aber nur. Ich kam mir auch schon recht eklig vor, obwohl ich doch erst irgendwann zuletzt geduscht hatte, aber sicher war ich mir
nicht. Ich klappte den Laptop zu und lag da und ließ die Tränen laufen. Als die irgendwann alle waren, lag ich immer noch so da und es wurde dunkel und wieder hell. Dann bemerkte ich, dass hier
kapital was schief lief und bekam Angst. Ich würde inmitten dieser Stadt sterben und niemand würde es merken.
80% des eigenen Erfolgs ist das Scheitern der Anderen II
Ich saß gerne auf dem Balkon daheim, das war das einzig Gute an dieser Sozialwohnung. Im Sommer war es zu heiß und im Winter zu kalt und am Klo roch es nach Urin und anderem. Aber daheim ist
daheim und ist scheiße und daheim. Meistens ging ich nicht zu den Vorlesungen, weil es mich ekelte vor den Leuten mit ihren Apple Macs und Collegeblöcken. Ich hätte mich auch waschen müssen oder
zumindest ordentliche Kleidung anziehen und es war ja wohl schlimm genug, überhaupt aufzustehen, nicht auch schon um sieben oder acht und dann noch auf sauber.
Einmal kaufte ich mir in so einem Fairtradeshop eine Hängematte im Ausverkauf und die packte ich auf den Balkon. Dann lag ich da den ganzen Tag von früh bis in die Nacht, ich schlief und dann
wieder nicht und dann wieder doch und zwischendurch hatte ich den Laptop auf dem Schoß, das Verlängerungskabel durch die Wohnung gezogen, Wlan gabs vom Nachbarn. Ich schrieb ins Forum, ich sei in
der Arbeit. Da gab es diesen einen Thread und alle bloggten da, was sie gerade machten, schrieben nur übers Arbeiten, Arbeiten. Natürlich glaubte ich das nicht, keine dieser Arschgeigen konnte
Arbeit haben, oder wenn, dann höchstens als Empfangstussi bei Anwälten oder Social-Media-Praktikant mit Vertrag für umsonst.
Das war vor dem Treffen im Winter mit Richard, als er eines seiner T-Shirts trug und Lehrer wurde. Hätte ich ihn gefragt, er hätte mir was checken können, sicher hätte er das, aber das war
peinlich und ich wusste das und er wusste es noch mehr. Die Leute werden unausgesprochen gehässig, wenn sie irgendetwas haben und du nicht. Und Richard, der war richtig schadenfroh. Ich kriege
zweieinhalb quasi fürs Nichtstun, hahaha, fürs Nichtstun! Und die anderen sind auch nur Idioten, haha. Und ich dann so: ja, haha. Aber gedacht hab ich mir, halts Maul du kleiner Schisser.
Nur war die Sache mit Richard die, dass er sich gerne mit mir sehen ließ. Er machte mir Komplimente und das alles und schrieb ins Forum, dass wir uns privat kennen, keine Ahnung, was er sich
darauf einbildete. Ich redete nur wenig, das reichte aber, um ihn bei der Stange zu halten. Er war intrigued um es so zu sagen. Und manchmal zahlte er den Kaffee, das war auch was. Oder es war
ganz anders und er machte dasselbe mit mir, der Herr Lehrer, weil er eine dieser Teilzeitschnepfen war. Einer von diesen Menschen, die sich in ihrem Überlegensein suhlten, aber dann wieder
irgendeiner auserkorenen Seele ihre Weisheiten auskotzen mussten, damit sich auch die neue Ziehpflanze überlegen fühlen konnte.
80% des eigenen Erfolgs ist das Scheitern der Anderen I
Aber Richard wollte das nicht hören. Er sagte, die Leute wissen es nicht besser, oder vielleicht wissen sie es schon, sie können aber nicht proaktiv deswegen sein. Das war, weil er so klug reden
wollte, um mich zu beeindrucken, aber ich sagte nur: fick dich, fickts euch alle, mich interessiert das nicht, ob die Leute proaktiv sind. Er sah peinlich berührt in seinen Kaffee, aber die
Kellnerin lachte.
Eigentlich war alles ganz anders geplant gewesen. Ich wollte abschließen, ja. Job finden, auch, ja. Und warum? Damit ich mehr Geld hätte. Überhaupt Geld. Irgendein Geld! Vielleicht würde ich auch
was schreiben oder Kunst machen. Da gab es ja Stipendien dafür, staatliche Förderungen im Sinne des Kulturauftrags und so Scheiß. Ich musste mir das noch überlegen, irgendwann, oder demnächst
eigentlich, aber das Nachdenken war mir zu blöd.
Als ich im Winter Richard traf, trug er wieder eins dieser komischen T-Shirts mit so einem lustigen Spruch, ganz übel wurde mir dabei. Versuchte sich einen Bart stehen zu lassen, weiß der Teufel
warum, es sah lächerlich aus und er sah lächerlich aus. Fehlte nur noch eine dieser Brillen, Horn oder Nickel, sowas.
Er fragte, wie es denn so gehe und ich sagte ihm, alles sei gut, ich hätte voll den Plan. Dann ist er frech geworden, gab wieder mit seinem Lehrerjob an. Lehrerjob, ganz im Ernst. Sieben
Custodiate macht er und das ist nur administrativ, lässiges Handgewedel, aber dafür kommt er auf zweieinhalb und da sollen sich die anderen ein Beispiel nehmen. Er hatte so eine krankhafte
Angewohnheit, immer mehr zu reden, je genervter die Leute von ihm wurden.
Über ihn war ich überhaupt im Forum gelandet. Nein, das stimmt eigentlich nicht, das war die Simone. Jedenfalls das Forum, für diese ganzen Menschen wie mich, die den Unsinn da studieren und
Illusionen über Sinnhaftigkeit und Jobaussichten haben. Und ich wollte gar nicht wissen, wer von denen sich noch was mit Kunst einbildete. Als gäbe es nicht ausreichend Kunst-Supermärkte und
Flohmärkte und Get-Togethers und Debattierclubs mit Brandy am Nachmittag im Park. Diese Memmen, wie sie mir alle auf den Sack gingen. Und als wäre das nicht genug, erkannte man sie hundert Meter
gegen den Wind, weil sie alle dämliche Strickjacken trugen. Das ist dasselbe wie in der Uni, nur online und anonym, sagte Richard eingangs dazu, die Dicken fallen halt nicht sofort auf. Dann
lachte er, der kleine Fettist.
Ich lernte bald, ihrer Krankheit nicht zu vertrauen. Ihre Krankheit war eine Hure. Eine verdammte Hure, die mit mir und Mutter und allen anderen spielte. Maskiert lächelte sie mir durch ihre Züge
zu, um kurz darauf hysterisch lachend die Orientierung und Erinnerung aus ihrem Blick verschwinden zu lassen. Oder sie hinterlistig zu nah oder zu weit von Dingen entfernt stehen, gehen,
niedersetzen zu lassen. Mysteriöse blaue Flecken und Abschürfungen. Mit der Krankheit fiel sie oft nach hinten. Wir lernten, dass der Instinkt sich mit den Armen und Händen im Fallen zu schützen
besser nach vorne funktionierte, selten nach hinten. In wenigen Monaten prellte sie sich das Steißbein öfter als ich in meinem restlichen Leben. Wir schafften auch eine Verbrennung, sie griff
nach der heißen Pfanne und konnte die Finger nicht wegbewegen, ihre linke Seite war nicht kooperativ. Sie schrie auf und Laura stieß sie geistreich zur Seite. Ja, es gab die guten und die
schlechten Tage, aber es gab auch den Lichtschalter und den -dimmer. Plötzlich war sie da und kurz darauf nicht, hatte vergessen in welcher Reihenfolge sie sich anziehen sollte, betrachtete den
BH und eine Strumpfhose, fragend. Oder einer Abteilung wurde der Strom abgedreht und sie ging unmittelbar vier-, fünf-, sechsmal auf die Toilette. Dr. Hase sagte, Geduld und Verständnis, niemals
Vorwürfe oder Wut, auch keine Konfrontation. Es gab keinen pädagogischen Ansatz mit welchem die Parkinson-Demenz beeindruckt werden konnte. Diese Krankheit konnte nichts beeindrucken. Diese
Krankheit war die Kirche, der Fluss und das Dorf zugleich. Sie überquerte, sie floss, sie machte verzweifelt.
Ich dachte immer, das Leben sei dramatisch. Oder, es würde dramatisch werden. Das hatte ich von Mutter. Sie suchte immer nach Reibung und Abenteuer. Wir Kinder waren eine Enttäuschung in der
Hinsicht, insgesamt hielten wir unsere Goschen und stellten nichts an. Ich zumindest wusste am Anfang auch gar nicht wie. Selbst mit 17 nannten wir sie noch Mama und unterschrieben unsere SMS mit
Bussi. Aber auch Vater war zu brav. Er ging arbeiten und kam pünktlich heim, versoff nicht das Geld und prügelte auch niemanden durch die Gegend. Er küsste sie auf den Mund, nie nur auf die
Wange. Seine Körperhygiene ließ nicht mit den Jahren nach und die Leibesfülle nahm lediglich die akzeptable Prozentzahl dem Alter entsprechend zu. Als er seinen 50. Geburtstag feierte, beschloss
er abzunehmen und nahm auch zwei Löcher am Gürtel ab. Er machte dabei alles selbst, legte beim Einkaufen Äpfel und Ananas in den Einkaufswagen und zu Hause verzichtete er jedes zweite Mal auf den
Nachtisch. Seine dreckige Wäsche ließ er nie rumliegen und er schimpfte uns Kinder aus, wenn wir es mal taten, "Ihr lasst Mutter eure stinkenden Socken angreifen, geniert ihr euch nicht".
Mutter aber war nicht glücklich. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Selbst als sie sich trennten, gab es kein Drama, keinen Streit. Vater sagte: Nimm du die Wohnung. Sie hätte wahnsinnig
gerne gesagt: Fick dich! Fick dich und deine scheiß Wohnung! Aber sie wusste auch nicht genau wie Streiten und Schreien ging, sie hatte nur ein unbestimmtes Gefühl, dass ihr harte Wortgefechte
und vor Wut klirrende Anschuldigungen abgingen.
Also sagte sie: Okay.
Und Vater sagte auch: Okay.
Und das war die Geschichte ihrer Trennung.
Wir Kinder blieben zuerst bei ihr und sie hoffte weiter auf ein Drama, hoffte, dass die Trennung etwas mit ihr machte, mit uns machte. Irgendwas. Aber weder wurde Laura schwanger, noch begann ich
eine Drogenkarriere. Niemand hörte Death Metal. Laura hatte manchmal Magenschmerzen und ließ das Abendessen aus, aber sie entwickelte keine Essstörung. Das Ganze war eine einzige, große
Enttäuschung für Mutter. Die Langweile brachte sie beinahe um. Es wurde schlimmer, als Laura und ich auszogen.
In einem letzten Versuch um mehr Drama ließ sie sich von Vater scheiden, viele Jahre nach der Trennung. Es war ein letztes Aufbegehren. Gegen wen wusste ich nicht. Deutlich weniger Jahre darauf
starb sie. Ich stelle mir gern vor, dass es ihr finaler Akt war, ihr dramatischer Abgang. Vielleicht war sie am Ende glücklich. Wir alle waren unglücklich, aber das passte zu ihr. Sie war erst
zufrieden, wenn niemand anderer es war. So war Mutter.
Gewesen.
So war Mutter gewesen.
Der Mann im Wald IV
Als die Messe vorbei war stand niemand auf und keine Sargträger kamen.
Ich sah zum Mann.
„Sie wird verbrannt.“
Ich sah ihn weiter an.
„Sie wollte es so.“
Die weiten, ebenen Flächen in seinem Gesicht. Den großen Mund, der zu einem dünnen Strich zusammengepresst war. Der Mund, der vorhin gesagt hatte: Erinnerst du dich?
"Und jetzt", fragte ich.
Ich weiß nicht woher er gekommen war, aber zu seinen Füßen lag ein Trauerkranz und ein kleiner Strauß Blumen, ihre Farbe kam mir nicht bekannt vor. Ich hob den Kranz hoch, stand auf und ging die
wenigen Schritte zum Sarg. Ich starrte das Tannengrün in meiner Hand an, eine Zierschleife gab es auch, aber ich konnte sie nicht lesen. Und plötzlich überkam mich ein Gefühl der Hilflosigkeit,
wie ich es noch nie in meinem Leben gespürt hatte, selbst als ich unter dem Baum zu Stein wurde. Als ich mich auf den Boden warf, weil ich keine Kraft hatte mehr. Als sie gestorben war. Als diese
Person in ihrem Zimmer stand und weinte, bitterlich weinte und dann schrie: „Bitte Papa, wach auf, ich kann das nicht ohne dich machen“ und plötzlich erinnerte ich mich daran, an dieses eine Wort
und auch daran was es bedeutete. Ich erinnerte mich und alles kam zurück mit einer Kraft, dass es mir kurz den Aten nahm. Papa, wach auf.
Ich starrte den Kranz in meiner Hand an und den Sarg vor mir, dieses fade, nussbraune Holz und die vielen Blumen drumherum und die Mutter Gottes mit dem Jesuskind darüber. Ich starrte alles
an und ich fühlte mich furchtbar, einfach furchtbar, denn ich wusste nicht, was auf dieser verdammten Schleife stand. Ich blieb stehen und betrachtete die Buchstaben, aber sie sagten mir nichts.
Ich glaube, ich sah Buchstaben die vielleicht meinen Namen bedeuteten und andere Buchstaben die etwas mit dem Mann zu tun hatten, in fein säuberlicher Zierschrift. Ich roch das Harz der Nadeln,
sie waren sicher frisch von einem Baum, höchstens gestern gepflückt oder überhaupt erst heute Morgen. Ich roch den Wald in meiner Hand, in dem ich mich manchmal verlor, so ganz anders als ich ihn
in Erinnerung hatte.
Ein Gedanke drängte sich in mein Gehirn. Da lag sie. Sie. Und alles was ich noch von ihr hatte, war diese Schleife, auf der sie und ich und dieser Mann zusammen standen. Und ich verstand nicht
einmal, was es bedeutete.
Ich drehte mich um und sah zu ihm rüber. Sein Kopf war gerade und sein Blick unerbittlich, aber die Augen ein Meer an einsamer Weite. Und ich weiß nicht warum, aber ich fing an zu weinen. Eine
Sekunde war ich stark und fühlte nichts und plötzlich fühlte ich alles. Ich ließ den Kranz zu Boden fallen und legte das Gesicht in meine Hände und weinte, so wie ich noch nie in meinem Leben
geweint hatte.
Mit drei Schritten war er bei mir. Er umarmte mich. Er drückte mich und hielt mich. Strich mir über den Hinterkopf, wie er es schon damals gemacht hatte, unter dem Baum. Mein ganzer Körper wurde
vom Weinen durchgeschüttelt, es hallte die Kirchenwände hoch. Ich hörte Schritte und das Rascheln von Blumen und mein Keuchen hörte ich auch. An meinem Ohr hörte ich seine Stimme, wie sie meinen
Namen murmelte. Ich dachte nur an die weiße Schleife um den grünen Kranz und unsere drei Namen darauf. Ich dachte, warum verstehe ich ihre Sprache nicht und wieder, warum verstehe ich ihre
Sprache nicht, wie soll ich mich von ihr verabschieden. Er wog mich hin und her, klopfte mir auf den Rücken und ich fühlte mich in seinen Armen klein und hilflos und geliebt zugleich, wie wenn
ich neben ihr im Bett lag und sie mir Geschichten vorlas.
Irgendwie beruhigte ich mich. Seine Stimme flüsterte meinen Namen, immer wieder, packte jeden Laut in Zuckerwatte. Ich hörte auf zu weinen. Er schaute ernst, so ernst. Dann hob ich den Kranz auf
und er nahm mich an der Hand. Die letzten Schritte gingen wir gemeinsam. Überall lagen jetzt Blumen und andere Kränze, links und rechts weiße Blüten und grüne Zweige.
Unseren Abschied legten wir auf den Sarg.
Ich wischte mir die letzten Tränen weg und starrte auf die Schleife.
„Kannst du es lesen?“, fragte der Mann.
Und obwohl das Leben ein Supermarkt ist und nirgends meine Frau zu sehen war, kam ich kurz aus dem Wald. Ich nickte.
„Hallo Papa“, sagte der Mann und lächelte, „da bist du wieder.“
Ich lächelte zurück und antwortete: „Ich kann nicht lange bleiben.“
Und mein Sohn nickte und sagte: „Ich weiß.“
Der Mann im Wald III
Schließlich gingen wir in die Kirche. Der Mann weinte leise. Ich legte meinen Arm um ihn und hielt ihm die andere freie Hand als Stütze hin. Er hielt den Kopf hoch. Es
regnete nicht.
Im Messraum waren alle Reihen besetzt bis auf die vorderste, die war für die Familie reserviert. Niemand saß dort.
„In die Mitte“, flüsterte der Mann und schob mich hin.
Wir setzten uns. Überall waren Blicke, überall. Viele Menschen weinten oder beteten leise, sahen auf den Boden und dann auf den Sarg als er hereingetragen wurde. Ein Messdiener schritt mit einem
langen Streichholz die vielen Kerzenständer ab. Bevor er ging, blieb er vor dem Altar stehen und bekreuzigte sich, drehte sich zu uns und nickte mit ernster Miene. Der Mann neben mir nickte
ihm ebenfalls zu, mit seinen dunklen Augen und den schwarzen Haaren sah er aus wie das Kind, dass der Mann aus dem Wald mit seiner Frau gehabt haben könnte. Oder war er der Mann aus dem
Wald?
Das Begräbnis begann. Musik ertönte, irgendwo hinten sang ein Chor. Ave Maria.
Ich sah mir das Kreuz über dem Altar an, die Kirchenfenster mit den Glasmalereien und wie das Licht durch sie hindurch auf den Sarg fiel. Rot und blau waren die Farben der Mutter Gottes mit dem
kleinen Jesuskind, der Heiligenschein ganz in gelb. Der Pfarrer kam.
Vom Rest der Messe bekam ich wenig mit. Die Laute, die aus dem Mund des Pfarrers flossen, lullten mich ein, genau wie die kreisenden Bewegungen auf meinem Rücken. Der kleine Jesus hatte eine
braune Windel und hielt einen grünen Palmenzweig ins Gesicht von Maria. Ich saß da und dachte an den Baum im Garten und wie er sich zur Erde streckte.
Der Mann im Wald II
Dann stiegen wir aus dem Auto und es war Vormittag und trocken. Der Mann öffnete die Tür und half mir auszusteigen. Er hängte sich bei mir ein. Er trug einen langen, schwarzen Mantel und hatte
die Haare nach hinten gekämmt. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn kannte. Wir gingen gemeinsam los. Seine Schuhe klackten auf dem Stein, wie langsames Pferdegalopp hörte es sich an. Er strich
mir unsichtbare Falten aus der Kleidung. Alles war friedlich, auch die Menschen die auf uns warteten. Der Mann lächelte, aber es sah angestrengt aus. Er kannte die meisten, begrüßte alle. Ich
ging nebenher und bemühte mich zu lächeln. Nickte beim Händeschütteln. Nur wenn mich die Menschen ansprachen, sagte ich nichts und blickte zum Mann, der mich vorstellte und entschuldigte, in
dieser Reihenfolge.
Zuerst, „Das ist Vater.“ Und dann, „Er hat heute keinen guten Tag.“
Und ich nickte wieder, während alle betroffen schauten.
„Warum“, fragte eine ältere Dame mit rundem Gesicht, „Spricht er gar nicht mehr?“
Dann legte der Mann seine Hand auf meinen Arm und antwortete, „Er hat nicht mehr gesprochen, seit der Sache mit Mama.“
Ich drehte mich um. Ich weiß nicht um wen es ging, aber es war mir unangenehm. Das alles hier. Die Situation und die Menschen und diese Fragen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Mund
war Stein. Ich blickte auf den Boden und irgendwie wusste ich, dass hier eigentlich Salz liegen sollte, auch wenn gar nicht Winter war.
Kurz darauf kam der Mann und holte mich. Er kam, lächelte mir aufmunternd, fast mütterlich zu. Hängte sich wieder bei mir ein und führte mich in das kleine Gebäude neben der Kirche. Wir gingen
drei Stufen hoch, durch eine Schwingtür und blieben vor einer Glasscheibe stehen. Die Menschen die dort standen wichen zurück, öffneten eine Schneise und er schob mich durch.
Da lag eine Leiche. Ihre Leiche. Ihr Gesicht war wie verbrannt, aber auf eine gute Art, von einem inneren Feuer gereinigt. Die Züge entspannt, so sehr, dass sie aussah, als würde sie schlafen und
auf mich warten. Nirgends sah ich den Husten. Das Feuer hatte den Husten ausgelöscht, ihre dünnen Arme die sie kaum noch heben konnte, ihren Mund verschlossen, der mir kluge Sachen erzählte. Das
Feuer hatte alles ausgelöscht und hatte nur diese Hülle hinterlassen.
Ich hörte den Mann neben mir seufzen und dann spürte ich seine Hand zwischen meinen Schultern. „Erinnerst du dich“, sagte er leise.
Ich drehte mich zu ihm um. Die anderen Menschen waren weg. „Woran“, fragte ich.
„Wie Mama starb“, sagte er, „erinnerst du dich daran?“
Ich sah zu ihm rüber. Ich erinnerte mich an eine Geschichte die sie mir erzählt hatte. Wie ein Mann im dunklen Wald verloren ging. Wie seine Familie draußen nach ihm rief, immer und immer wieder.
Wie der Mann manchmal ihren Ruf hörte und ihm folgte. Wie er zwischen langen Ästen hervorkam und über viel Moos ging. Und wie sie sich umarmten, wenn er rauskam. Den Teil fand ich gut. Aber dann
kam noch: Wie der Mann in der Nacht wieder in den Wald ging.
„Doch“, antworte ich, „ich kann mich erinnern.“
Der Mann im Wald I
Als sie starb, war es lange kalt gewesen und es war auch viel Regen. Das war gut, denn Regen macht die Luft frisch und dann ging es ihr besser. Sie starb trotzdem. Ich fand sie nicht. Der Mann
der bei uns wohnte fand sie. Er sagte, dass sie wieder dem Baum vor dem Fenster zugeschaut hatte, wie er die Äste zum Boden streckt und sich dehnt, dass seine alten Knochen knarren. Er sagte,
dass sie dem Baum gerne zusah, weil er friedlich wirkte. Aber ich wusste, dass sie auf den Mann aus dem Wald wartete. Und er kam nicht und sie starb.
„Der Wald ist verflucht“, sagte ich.
Der Mann sagte, „was redest du von einem Wald, sie ist im Himmel.“
Aber ich glaubte ihm nicht. „Du lügst“, sagte ich zu ihm, „du lügst!“
Und er sagte, „Bitte Papa, wach auf, ich schaffe das nicht ohne dich.“
Doch ich wusste nicht, was die Worte aus seinem Mund bedeuteten. Ich wurde immer schwerer, da war es, ich wurde zu Stein, zu einem dicken Felsbrocken. Von unten nach oben, zuerst langsam, dann
immer schneller. Dann rannte ich. Ich rannte aus dem Zimmer, wo sie nicht mehr lag und ich rannte hinaus in den Garten zum Baum mit den langen traurigen Ästen, den sie so gern angeschaut hatte.
Ich rannte mit aller Kraft, aber meine Beine wogen viele Tonnen, Teile vom Boden klebten sich daran und zogen mich hinunter, ich rannte und tatsächlich war ich langsam, denn irgendeine Magie
verwandelte mich zu einem trägen, alten Riesen. Ich kämpfte dagegen, kämpfte mich die Stiegen hinunter hinaus in den Garten. Da war der Baum, den sie so gern angesehen hatte, der Eingang zum
Wald, der Eingang zum verfluchten Wald. Ich wollte mich hinsetzen, aber nichts hörte auf mich, nicht meine Beine und auch nicht der Mann, der hinter mit herlief.
Ich rief, „Lass mich in Ruhe, ich weiß nicht wer du bist!“ Dann ließ ich mich nach vorne fallen und landete auf der Erde. Der Boden war nass vom vielen Regen und das war gut, denn eigentlich war
ich alt, konnte ich mich erinnern. Ich weinte nicht. Sie hatte auch nicht geweint. Ich lag am Boden. Ich hörte den Wind in den Blättern und ich hörte den Mann, wie er nach mir rief. Aber es war
mir egal. Ich lag unterm Baum und atmete den erdigen Boden, wie er leise in den Himmel seufzte und das war schon schwer genug. Ich konnte nicht aufstehen, ich war endgültig Stein. Nur mein Herz
schlug unter der dicken Schicht, leise und schwach und im Takt mit dem Klackern von Störchen aus ihrer Jugend. Wie schwebende Uhren, über den Ribiselsträuchern, neben der Kirche, wo wir gesessen
sind.
Ich dachte an sie und ihren Supermarkt. Sie hat immer gesagt, das Leben ist ein Supermarkt. Die Leute nehmen sich was sie wollen, aber nicht jeder kann sich alles leisten. Manche bekommen die das
frischeste Brot und wieder andere angegammeltes Fleisch, das in drei Tagen für Durchfall sorgt. Viele kaufen Äpfel, aber nicht alle Äpfel sind gleich und das ist nicht gerecht und gleichzeitig
schon. Sie sagte viele Dinge, auch kluge, sehr kluge sogar. Den Supermarkt gab es noch irgendwo, sie aber nicht mehr. Sie war unter der Erde. Im Wald.
Dann kam der Mann, ich konnte seine Schritte hören. Er kniete sich zu mir nieder und strich mir über den Kopf.
„Papa,“ sagte er wieder.
Aber ich war Stein.
„Was machst du für Sachen,“ sagte er noch.
Aber ich war Stein.
Achtzig Prozent des Erfolgs ist die Teilnahme
„Zwei Nächte hintereinander träumte ich davon, dass ich mich in einen Mülleimer übergebe. Ich würgte grau-weiße Wölkchen hervor, die wie flüssiger Schaumstoff aus meinem Mund flossen. Ich wachte
auf und musste nicht einmal aufs Klo.“
Die Ärztin war jung und hatte einen kurzen Rock. Einen so kurzen, dass er die Farbe ihrer Unterhose sehen konnte, wenn sie vergaß die Beine beisammenzuhalten. Sie fragte ihn, ob er noch etwas
hinzufügen wollte.
„Ich glaube nicht“, antwortete er.
Die Ärztin notierte sich etwas auf den Block und schaute zu ihm hoch.
„Hatten Sie diesen Traum sonst noch einmal?“, versuchte sie es erneut und glaubte, so ganz ungezwungen.
„Nein. Ich träume sonst von korrodierendem Metall.“
„Interessant.“
„Ja.“
„Wollen Sie mir darüber mehr erzählen?“
„Lange Geschichte.“
„Wollen Sie sie mir erzählen?“
„Nein.“
Sie schwiegen. Die Ärztin stand auf und ging das Fenster schließen um die peinliche Stille zu füllen. Dabei konnte er ihre Beine von hinten betrachten. Sie setzte sich erneut. Überkreuzte diesmal
die Beine. Ihr Gesicht verriet nichts. „Erfahrungen zeigen, dass es nicht ratsam ist Entscheidungen sofort nach einer Stresssituation zu fällen“, sagte sie.
„Wessen Erfahrungen“, fragte er. Er machte seinen Job bereits seit 19 Jahren, sie hatte anscheinend auf dem Weg von ihrer Sponsion noch nicht einmal Zeit gehabt, sich einen neuen Rock zu kaufen.
Dieser Vergleich hing im Raum mit den kreisförmig aufgereihten Plastiksesseln, wie ein billiger Kloduft.
Es blieb wieder still. Im Fenster hinter ihrem Rücken bewegte sich im kalten Wind irgendein blühender Zweig. Er wusste nicht was für einer, mit Obstbäumen kannte er sich nicht aus. Der Wind
setzte erneut ein und weiße Blüten regneten vom dünnen Ast.
Die Ärztin blickte auf ihren Block und errötete aus einem nicht nachvollziehbaren Grund. Das war ihm unangenehm, er brachte ungern andere in Verlegenheit.
Sie schluckte trocken.
Gerne hätte er ihr gesagt, dass es in Ordnung ist, weil wenn es nicht ums Leben geht, ist es ziemlich egal. Aber er konnte nicht. Er überlegte noch, ob er ihr etwas sagen sollte. Freundlich
lächeln, aufmunternd nicken, irgendwas für die Spiegelneuronen.
„Gut. Dann sehen wir uns nächste Woche.“ Sie sah erleichtert aus.
Er nickte und ging. Er kam nicht mehr wieder.
Vaterfalten
Mir ist Sommer. Das Gras trocknet und auf den Straßen liegt Staub. Seit Vater gestorben ist, sind alle verwelkt. Ich auch. Ich bin gealtert und hässlich geworden. In der Früh sah ich mich im
Spiegel, tiefe Linien waren um meinen Mund. Ich ziehe das gelbe Kreppkleid aus dem Second Hand-Laden an. Die Erbsache war noch nicht einmal vorbei. Wir hätten alle gerne geerbt, und ich so: dann
mähe ich zumindest Vaters Rasen.
Vater hinterließ Unordnung, ungewaschene Gläser auf dem Tisch und ein Sakko, achtlos über eine Stuhllehne geworfen. Am Fensterbrett alte Joghurtbecher, in ihnen tote Fliegen. Ich sperre auf,
mache Halt in der Küche, suche unbestimmte Schätze. Niemand sagt „willkommen“. Es ist ein irritierendes Gefühl. Ich wühle durch einen Schrank mit Einmachgläsern, öffne ein Marillenkompott und
setzte mich aufs Kanapee in der Küche. Mir ist Sommer.
Das Kanapee hat Vater in die Küche geschleppt, dafür, dass er darauf schlafen wird. Er schlief dort nicht einmal und starb in seinem kleinen Arbeitszimmer. Ich lege mich hin, ich weiß nicht, wie
mir ist. Unten in der Stadt läutet eine Kirchenglocke. In den Weingärten um das Haus herum wandern Menschen herum, ich höre sie arbeiten und lachen. Es kommt mir unerhört vor.
Und danach mähe ich das Gras, das Gras liegt mir zu Füßen, ich mähe gegen den Strich, ich hole aus und die Sonne knallt mir auf das gelbe Kleid, auf den gebeugten Rücken darunter. Ich fange an zu
weinen, weine in das kniehohe Gras, weine hinter dem Haus, das mir zusammen mit ihm gestorben ist. Plötzlich weiß ich alles, ich verstehe es, nur ist niemand da dem ich es sagen kann, ich mähe,
ich mähe, alles um das Haus herum, Papa, ich bin stark, wenn du mich sehen würdest. Ich denke ...
Und dann sind die Erbschaftsverhandlungen vorbei, unvermittelt habe ich die Schlüssel vom Haus, wir werfen ein paar Dinge weg, alte Pillenschachteln, für was oder wen wären die jetzt noch,
selbstverständlich, Bleistifte und Kleinigkeiten, es gibt keine Zeit zum Nachdenken. Ich räume das jetzt so auf, dass nicht einmal mehr sein Geruch verbleibt. Und mir ist Sommer und auch
anders.
Ich trage gerne seinen alten Mantel. Der Wein, in den er immer angezogen war, duftete nicht schwach. Ich hüllte mich darin und krieche hinein. Wenn ich in der Früh auf den Bus warte, duftet die
ganze Station nach mir. Auf dem Rückweg treffe ich mich dann wieder dort mit seinem Duft.
Ich hatte die Hausschlüssel, nur wartet niemand mehr auf mich, begrüßt werde ich von keinem. Mit den Füßen massiere ich Vaters Garten und manchmal höre ich in der Nacht, wie das Gras erneut
wächst. Mir ist Sommer, und das schon seit langer Zeit.
Das Ende des Sommers III
Am Meer war es dann schön. Eintönig, aber schön. Sogar Laura gestand es ein, was Mutter irrational glücklich machte. Überhaupt war sie und auch Vater gut gelaunt. Sie zeigten es dabei auf
unterschiedliche Weise. Mutter stand früh auf und lief quer durch das Dorf, um frisches Brot zu kaufen, dieses ganz weiße, an dem man ewig essen kann, ohne jemals satt zu werden. Danach machte
sie beschwingt Frühstück und trieb uns anschließend wie eine Herde Schafe vor sich her an den Strand. Sie bräunte sich lang und stand nur auf, um ihre ewigen Sonnenbrände bei weiten Runden im
Meer abzukühlen.
Vater hingegen drosselte sein Tempo zu unendlicher Langsamkeit. Er trank viel und gern Kaffee und kam Stunden später an, sogar seine ledernen Strandschuhe knarrten extra laut, als würden sie von
der vielen Gemächlichkeit ächzen. Er legte sich in den Schatten und schlief ein, stand erst wieder auf, wenn wir heimgingen.
Doch das stimmt nicht.
Einmal stand er doch auf. Da ging er bis zur Wasserlinie und stellte sich in die Sonne, um sich aufheizen zu lassen. Dabei stemmte er die Hände in die Hüften und es störte ihn nicht, dass sein
Bauch über die kleine Badehose hing. Er war hier der Kapitän. Nach fünf Minuten machte er sich auf den Rückweg in den Schatten um den restlichen Tag zu verschlafen. Er kam bei Mutter vorbei,
blieb bei ihr stehen, beugte sich runter und küsste sie auf den Kopf. Jeden Tag machte er das.
Jahre später erinnerte ich mich an diesen Sommer, wie ich ganz weiche Hände vom vielen Wixen hatte und wie Vater aus dem Schatten kam, um Mutter in der Sonne zu küssen. Wie mich das damals
unheimlich beruhigte, ohne dass ich es merkte. Ich erinnerte mich daran, weil sich Vater und Mutter am vorletzten Urlaubstag trennten und es niemandem sagten. Wir verbrachten auch die letzte Zeit
am Meer schön und eintönig und gemeinsam.
Dann fuhren wir heim. Mittlerweile wollte ich kein Bildhauer mehr werden, sondern nur noch breite Schultern und dicke Arme haben. Wir kamen in der rußigen Wohnung an, es roch nach Asche und
verbranntem Plastik. Vater trug unsere Sachen hinauf und stellte sie im Wohnzimmer ab. Dann küsste er ein letztes Mal Mutter, strich Laura und mir über den Kopf und ging. Er kam nicht wieder. Und
dann fing der Herbst an.
Das Ende des Sommers II
Großcousine Miriam sagte immer, alles im Leben kommt wie die Jahreszeiten: mal früher, mal später, aber es kommt, wenn sie kommt. Dann lachte sie dreckig. Als sie das sagte, stand sie in ihrem
großen Garten hinter ihrem Haus auf dem Hügel, von dem aus man die ganze Stadt überblicken konnte, und meißelte mit ihren 65 Jahren an einem Marmorblock. Großcousine Miriam war Bildhauerin. Wie
andere Menschen beständig die Kolonoskopie bis zur Pension aufschoben, weigerte sie sich mit ihrer Kunst aufzuhören, mit ihren Holztotems und den riesigen Steinfiguren Schluss zu machen. Dabei
war Groußcousine Miriam gar nicht unsere Großcousine, sondern etwas ganz anderes. Ich ließ mir die Verwandtschaft einmal von Mutter und ihr erklären. Beide sagten etwas anderes. Großcousine
Miriam blieb Großcousine Miriam, die alte Dame mit den zwei Praktikanten, den Steinhaufen und Metalltürmen in ihrem Garten. Laura und ich spielten am Tag dazwischen Verstecken und am Abend
erklommen wir die Riesen, um über die Ränder der leuchtenden Stadt ans Ende der Welt zu blicken.
Ich erinnerte mich, dass ich gerade in diesem Sommer, am Höhepunkt meines jugendlichen Wahnsinns, auch Bildhauer werden wollte. Eine Woche vor dem Urlaub zwinkerte mir eine Galeristin, die eine
Werkschau von Großcousine Miriams Skulpturen kuratierte, bei der Eröffnung der Ausstellung zu. Sie zwinkerte einmal und später fixierte sie mich mit ihrem Blick, während sie mit einem
potenziellen Käufer sprach. Ihre Haare waren gut geföhnt, ihr Lachen kultiviert und perlweiß. Kurzum sie war eine offensichtlich beruflich und sexuell selbstverwirklichte Frau. Ich schlich um sie
herum und war frustriert, als wir bald darauf heimgingen. In der Nacht masturbierte ich zur Vorstellung von ihr und mir. Wie ich Künstler war und mit Hammer und Meißel an einer sehr großen, sehr
maskulinen Steinskulptur arbeitete, die sie unbedingt für ihre Galerie haben wollte. Ich war fertig, noch bevor sie in meinem Kopf zur Tür reinkam und meine breiten Schultern oder starken Arme
oder meine rustikale Kunst bewundern konnte. Als wir in den Urlaub aufbrachen, machte mich die Vorstellung fertig, dass ich mir nicht mehr jeden Abend in Ruhe einen runterholen konnte.
Das Ende des Sommers I
Als der Herd Feuer fing, die halbe Küche in Schutt und Asche legte und Laura sich dabei so schreckte, dass sie sich zwei Stunden im Badezimmer verbarrikadierte und wir darum das Wasser zum Löschen aus dem Klotank häferln mussten, waren wir eigentlich auf dem Weg in den Urlaub. Den letzten gemeinsamen Urlaub. Ich war gerade 20 geworden, Laura hatte etwas fertig studiert vor zwei Monaten und trotzdem in einer Bank begonnen.
"Schluss damit," sagte sie, "Schluss mit diesen Familienurlauben." Als sie das sagte, trug sie ihren breitkrempigen Sommerhut und steckte weiß-blau gestreifte Shorts und Sonnenöl in einen Koffer. Ich glaube, sie lächelte.
"Findest du nicht ...", begann ich.
Sie hielt kurz inne, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und antwortete: "Riechst du das? Das ist doch Rauch?" Dann sprintete sie zur Tür raus, der Hut wehte dramatisch drei Schritte mit und fiel dann über ihre Schultern zu Boden.
Vater bekämpfte den Brand mit stoischer Miene. Er zog seine dicke Weste aus und begann damit auf die Flammen einzuschlagen. Nicht gewaltvoll, sondern mit Ruhe und Ausdauer, als wüsste er von Anfang an, dass Contenance siegen würde. Das beeindruckte mich. Wie ein unnachgiebiger Riese kam er mir vor und ich überlegte, wie er in wadenhohen Stiefeln und einem spitzen Hut aussehen würde.
Mutter hämmerte zuerst erfolglos an die Badezimmertür und schrie nach Laura, aber die schrie nur zurück. Dann gab Mutter auf und zu zweit bildeten wir eine Löschkette vom Klo über den Flur bis in die Küche. Ich drehte das Wasser zum Nachfüllen der Klospülung auf und schaufelte um mein Leben, während Mutter herumlief und das Feuer mit den kleinen Lackerln kitzelte. Einmal schüttete sie dabei Vater an. Ich weiß nicht, was genau brannte, aber Vater besiegte es. Er erstickte das Feuer und wischte sich dann mit dem Handrücken über das Gesicht. Ein bisschen Ruß blieb auf seiner rechten Wange. Das Haus war gerettet, die Küche aber verloren.
Mutter riss die Terrassentür und alle Fenster auf. "Schad drum," sagte sie, "wir hatten sie erst 11 Jahre."
Vater ignorierte uns beide und begann die Reisetaschen ins Auto zu tragen. Als Laura aus dem Bad kroch, war alles gepackt und wir fuhren endlich los.